Eine abenteuerliche Expedition ins hohe Alter

(Rheinische Post, 7. Januar 2020) (Nutzung dank freundlicher Genehmigung der Rheinischen Post)

 Die Graf-Recke-Stiftung und das Sanitätshaus Vital haben einen Alterssimulationsanzug entwickelt, um die Herausforderungen von Senioren erlebbar zu machen. Ein Selbstversuch.

Von Simona Meier

Es dauert nur eine Viertelstunde, dann bin ich sehr alt. Unsicher stehe ich auf meinen Beinen, ich höre wenig, sehe verschwommen und greife suchend nach dem Treppengeländer. Meine Hände können kaum zugreifen, mein Gang ist wackelig und schwerfällig. Die Treppe am Eingang der Graf-Recke-Stiftung steige ich langsam hinab. Es fällt mir schwer, die Abstände der Stufen einzuschätzen, denn eine Brille simuliert eine typische Augenerkrankung im Alter. Schnell fehlt mir die Puste, der Weg zurück in den ersten Stock dauert und ich wünsche mir tatsächlich einen Stuhl, um kurz auszuruhen. Ich trage eine zehn Kilogramm schwere Weste, weitere Gewichte sind an Armen und Beinen befestigt.

Eigentlich bin ich erst 50 Jahre alt, doch heute teste ich den Alterssimulationsanzug „AleX“, mit dem verschiedene Stufen von Altersbeschwerden, aber auch Behinderungen simuliert werden können. Entwickelt wurde er von der Düsseldorfer Graf-Recke-Stiftung und dem Sanitätshaus Vital Hilden, um erlebbar zu machen, mit welchen Herausforderungen Senioren ihren Alltag bewältigen müssen.

Die Optik erinnert mich etwas an das Raumfahrermodell, das Alex, unser Mann im All, Alexander Gerst, trägt. Wahrscheinlich liegt es an der blauen Farbe, doch schwerelos fühle ich mich nicht, als mich das Team der Graf-Recke-Stiftung Stück für Stück einkleidet. Orthesen an Händen und Beinen schränken meine Bewegung drastisch ein, Gewichte simulieren die nachlassende Muskelkraft, der Gehörschutz lässt nur wenige Geräusche zu. Die großen Schuhe bescheren mir einen wackeligen Gang. „Sie tragen eine Halskrause, die den klassischen Schulterblick einschränkt“, erklärt Julia Bister vom Sanitätshaus Vital Hilden.

Schon beim Aufstehen stolpere ich fast. Weil ich nur verschwommen sehe, fällt mir die Orientierung im Raum schwer. „Geben Sie mir doch bitte zwei Euro aus dem Portemonnaie“, fordert mich das Team auf. Das dauert. Ich hantiere mit den steifen Handschuhhänden und scheitere an der Größe der Münzen. Eine typische Situation an der Supermarktkasse. Als ich mir ein Glas Mineralwasser eingießen soll, wird der Schraubverschluss zur Hürde, später hoffe ich, dass ich nichts verschütte, weil ich das Glas kaum sehe, das ich dann aus Sicherheitsgründen lieber mit zwei Händen greife, denn ich kann jetzt nicht so locker wie gewohnt zugreifen. „Der Anzug gibt einem eine andere Perspektive auf das Thema Altern“, sagt Pfarrer Markus Eisele, Theologischer Vorstand der Graf Recke Stiftung.

Da kann ich nach einer halben Stunde nur zustimmen. Mein gewohnter Umgang mit Alltagssituationen ist einer großen Verunsicherung gewichen. Menschen, die hinter mir stehen, kann ich kaum hören, umdrehen funktioniert auch nicht, denn die Manschette am Hals hindert mich daran. Als ich etwas aufheben möchte, muss ich aufpassen, dass ich nicht falle. Ich lege mich kurzerhand selbst einmal auf den Boden, um festzustellen, dass ich erst über die Seite rolle, dann auf die Knie und mich nur langsam aufrappele. „Alter ist nichts für Feiglinge“, kommt mir in den Sinn. Das habe ich schon des Öfteren gehört, doch plötzlich alt zu sein, fühlt sich tatsächlich sehr anstrengend an.

Ich denke darüber nach, dass hoffentlich nicht alle Einschränkungen auf einmal kommen werden. Kontaktlinsen sind schon jetzt mein täglicher Begleiter, ich suche öfter schon mal die Lesebrille. Doch Alex zeigt mir, wie sich Alter oder Behinderunge im Alltag anfühlen. Ich atme tief durch, als ich die Gewichte wieder los bin. Noch bleibt Zeit, mich lange fit zu halten, denke ich. Und hoffe ich.

Den Alterssimulationsanzug haben Pfarrer Markus Eisele und Orthopädietechniker des Sanitätshauses Vital Hilden entwickelt. Sponsor der 4000 Euro teuren Anzüge sind die Orthopädietechnik Unternehmen Otto Bock, Bort und Össur. „Unser Ziel ist es, dass jeder Einzelne, aber auch Firmen, Einrichtungen und Kommunen besser auf die Bedürfnisse von alten und kranken Menschen eingehen können“, sagt Markus Eisele. Simuliert werden können zum Beispiel der Graue Star, die diabetische Retinopathie, Morbus Parkinson oder Hörschädigungen. Der nichtkommerzielle Anzug wird zu diesem Zweck unter fachkundiger Anleitung verliehen.

Die Stiftung wird den Anzug auch selbst im Rahmen der innerbetrieblichen Fortbildung ihrer Mitarbeiter einsetzen. „Unsere Pflegekräfte haben so die Möglichkeit, am eigenen Leibe zu erleben und eine Sensibilität zu entwickeln, was alles eine Behinderung im Alltag sein kann“, erklärt Joachim Köhn, Leiter des Geschäftsbereichs Wohnen & Pflege der diakonischen Stiftung aus der Landeshauptstadt. Das Projekt „AleX“ wird vom Ausbildungszentrum für Physiotherapie der Uniklinik Düsseldorf auch wissenschaftlich begleitet. Die Initiatoren hoffen auf viele Veränderungen: „Wer das selbst erlebt hat, der wird mit den Menschen anders umgehen, Abläufe und Architektur verändern“, ist Markus Eisele sicher.

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