Wir erleben jeden Tag eine neue Momentaufnahme
"Wir erleben jeden Tag eine neue Momentaufnahme": Interview mit Birgit Kleekamp auf Basis des WDR-Interviews für die Sendung „Markt“
Ende Januar wurde im Walter-Kobold-Haus per Schnelltests und anschließenden PCR-Tests ein Coronaausbruch festgestellt. 45 Bewohnerinnen und Bewohner sowie 16 Mitarbeitende wurden im weiteren Verlauf positiv getestet, vier Bewohnerinnen und Bewohner verstarben. Ende Februar war das Infektionsgeschehen unter Kontrolle. In einem WDR-Interview gab Einrichtungsleiterin Birgit Kleekamp ausführlich Auskunft (Ausstrahlungstermin 3. März 2021, hier geht es zur Sendung). Wir dokumentieren die Aussagen in diesem Text, die Aussagen wurden zur besseren Lesbarkeit an einigen Stellen lediglich stilistisch geglättet.
Zum Ausbruch im Walter-Kobold-Haus:
Wir sind natürlich alle auch sehr betroffen. Wir haben es über zehn Monate lang geschafft, Corona aus dem Haus zu halten. Wie es nun zu diesem Ausbruch kommen konnte, ist mit letzter Sicherheit nicht zu sagen. Wir haben unsere Mitarbeitenden und Bewohner regelmäßig getestet, wir haben selbstverständlich die Sicherheitsvorkehrungen eingehalten, die Mitarbeitenden sind sehr gut geschult im Umgang mit den Hygienemaßnahmen und haben die auch immer eingehalten. Und damit sind wir sehr lange Zeit sehr gut gefahren.
Zum Sicherheitskonzept vor dem Ausbruch:
Es gab im Laufe der Pandemie verschiedenste Sicherheitsmaßnahmen, die getroffen worden sind. Ganz am Anfang gab es im ersten Lockdown sogar ein komplettes Besuchsverbot, im Sommer dann wurden Besuche draußen möglich, und zum Jahresende gab es dann die neuartigen Schnelltests, die wir sowohl bei Bewohnern als auch Mitarbeitenden selbstverständlich regelmäßig vorgenommen haben. Dadurch konnten wir Menschen, bei denen keine Symptomatik zu erkennen war, überprüfen und bei positivem Ergebnis schnell auch Maßnahmen ergreifen.
Zur Anwendung der Schnelltests:
Die Schnelltests waren angeordnet seit Ende November, auch die Häufigkeit. Wir haben aber zwischendurch auch selbst immer wieder so genannte PCR-Labortests gemacht, weil die Schnelltests nicht mit einer hundertprozentigen Sicherheit alle Fakten abdecken.
Zur Häufigkeit der Schnelltests:
Vor dem Ausbruch haben wir drei Mal in der Woche das Personal durch die Bank getestet, die Bewohner einmal die Woche. Jetzt wird das Personal, das nahe am Bewohner arbeitet, also alle pflegerischen Mitarbeitenden und alle Mitarbeitenden des Sozialen Dienstes, täglich getestet, die Bewohner werden drei Mal Woche getestet und alle anderen Mitarbeitenden, wie zum Beispiel ich, also Verwaltung oder Rezeption, alle zwei Tage getestet. Auch unsere Reinigungskräfte wurden regelmäßig mit Schnelltests überprüft.
Über das Besuchsverbot während des Ausbruchs:
Das Besuchsverbot wird durch die WTG-Behörde, früher: die Heimaufsicht, und durch das Gesundheitsamt verhängt. Das heißt, dann kann regulär kein Angehöriger zu Besuch kommen. Wenn Menschen im Haus in ihrer letzten Lebensphase sind, dann ist es aber sehr wohl möglich, dass Angehörige sich verabschieden können. Sie müssen sich dann allerdings auch den Hygienestandards unterwerfen, also einen Vollschutz mit Kittel, Mundschutz, Haube und Handschuhen anlegen.
Zur Begleitung durch die Politik und Behörden:
Wir haben erlebt, dass die Politik einen sehr großen und guten Rettungsplan gestrickt hat, also: Was die finanzielle Unterstützung angeht, das ist schon großartig. Ganz am Anfang hatten wir Schwierigkeiten, an Material ranzukommen, da wurden auch noch Mondpreise aufgerufen für Schutzmaterialien, die wir dringend brauchten. Aber inzwischen ist das überhaupt kein Thema mehr, wir haben alle Materialien, die wir brauchen. Was wir nicht haben und uns auch keiner mal aus dem Himmel zaubern kann, sind genügend Menschen. Es fehlen Mitarbeitende, überall. Wir sprechen ja schon seit Jahrzehnten über das Thema Pflegenotstand, das ist ja jetzt nicht neu, und in dieser Coronakrise bräuchten wir eigentlich noch viel mehr Menschen. Denn es wird von uns ja auch noch mehr verlangt und gefordert: an Testungen, an Begleitung, die Versorgung der Bewohner ist aufwändiger und personalintensiver. Auch die Bewohnerinnen und Bewohner merken ja, was los ist, und wenn sie plötzlich keinen Besuch mehr von ihren Angehörigen bekommen können, versuchen wir das einigermaßen aufzufangen. Auch das ist einfach zeit- und ressourcenintensiv.
Über die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt Düsseldorf:
Wir haben das Gesundheitsamt als sehr engagiert erlebt, aber auch da gibt es sicherlich personelle Engpässe, so viel Manpower, wie vielleicht notwendig gewesen wäre, war auch da zunächst nicht da. Jetzt während des Ausbruchsgeschehens ist eine Kollegin vom Gesundheitsamt hierhergekommen, um uns nochmal unterstützend zu begleiten und zu gucken: Wie ist es hier? Macht ihr alles richtig? Greifen die Konzepte? Gibt es noch was, was wir verbessern können? Diese Begehung war sehr hilfreich und wir haben auch noch einmal die Bestätigung erhalten, dass das, was wir tun und wie wir es tun, so gut und richtig ist.
Zur Durchführung der Schnelltests:
Unsere Pflegefachkräfte, also die dreijährigen examinierten Fachkräfte, sind alle geschult und können diese Tests durchführen. Und bei Mitarbeitenden und den Bewohnern machen das auch unsere eigenen Mitarbeitenden, auch weil die Bewohner diese kennen und das von Vorteil ist.
Zu den personellen Kapazitäten:
Alles das, was an dieser Stelle an Personalressourcen aufgewandt wird, fehlt an einer anderen Stelle. Auch wir haben hier um Unterstützung für die Testungen gebeten, es wurden ja von verschiedensten Seiten Hilfsangebote gemacht. Das war aber nicht flächendeckend für alle Einrichtungen direkt umsetzbar. Jetzt im Februar haben wir ganz wunderbare Unterstützung gekriegt von den Mitarbeitenden des MDK (Anm.: Medizinischer Dienst der Krankenkassen, MDK-Nordrhein), da waren vier Mitarbeitenden vom MDK hier bei uns im Haus, die uns bei den Tests von morgens bis abends unterstützt haben. Die haben eine wunderbare Arbeit gemacht. Leider müssen die jetzt wieder ihren ursprünglichen Arbeiten nachgehen und können uns im März nicht weiter unterstützen. (Nachtrag vom 4.3.21: An den Wochenenden im März wird das Deutsche Rote Kreuz unterstützen, unter der Woche konnten wir geeignete und geschulte Zeitarbeitsnehmer finden.)
Zur Belastung des Personals:
Wir reden ja schon seit Jahrzehnten über den Pflegenotstand, einen großen Mangel an Fachkräften. Und die Fachkräfte, die da sind, haben auch schon ohne Corona eine anstrengende, sowohl physisch als auch psychisch anstrengende Arbeit zu leisten. Und wenn wir jetzt noch in Coronazeiten darüber nachdenken, was noch alles zu machen ist, an administrativen Tätigkeiten, an der Durchführung der Tests. Der Test ist ja nicht in zwei Minuten gemacht, das ist alles Zeit, die geht bei den Bewohnern am Bett verloren. Ich kann eine Fachkraft ja nur an einer Stelle einsetzen. Dazu kommt die psychische Belastung. Wir arbeiten in der Altenpflege in einer Beziehungsarbeit, da geht es darum, einen guten Bezug zu unseren Bewohnern zu bekommen, um sie individuell begleiten, betreuen und pflegen zu können. Und wenn ich einen Bezug habe zu einem Menschen, nimmt mich das natürlich auch psychisch ganz anders mit, wenn der krank wird, schwerkrank wird oder möglicherweise stirbt. Ja, wir kennen das in Altenpflege, Menschen sterben im Altenheim, aber es ist in der Zeit von Corona tatsächlich noch mal eine sehr viel bedrohlichere Situation. Die Menschen haben Angst, die Mitarbeitende haben Angst um die Bewohner und natürlich auch um sich selber. Das ist eine zusätzliche hohe Belastung.
Zum Umgang mit den Belastungen:
Ich halte sehr viel davon auf den Menschen zu sehen, zu gucken, was der Einzelne braucht. Mein Menschenbild ist so, dass ich sage: Es gibt keine Mitarbeitenden, die absichtlich Schlechtleistungen erbringen. Das heißt, es gibt einen Vertrauensvorschuss, und ja, natürlich gibt es auch Anweisungen und Vorgaben, wie Dinge abzulaufen habe. Das ist ganz wichtig, auch zur Orientierung. Klarheit ist wichtig, um Mitarbeitende zu befähigen und zu begleiten, ihre schwere Arbeit zu machen. Und das ist dann eine gute Grundlage, dass unsere Bewohner sicher, gut und individuell versorgt werden. Ich muss den Menschen als Bewohner, als Angehörigen, als Mitarbeitenden, als Person im Blick haben, und wenn ich ihn im Blick habe, befähige, abhole und stärke, dann kann dieses Konstrukt gut funktionieren.
Über die Vielzahl der Verordnungen:
Es gibt schon sehr viele Verordnungen, die kommen dichtgedrängt. Man hat die eine kaum gelesen, dann ist die nächste schon da. Das sind Papiere, die länger sind als ein, zwei Seiten, und wenn wir das umsetzen, müssen wir das ja auch mit vielen Menschen kommunizieren, hausintern mit allen Mitarbeitenden, die wir unter Umständen auch wieder schulen, anweisen und dergleichen. Und auch nach draußen zu den Angehörige müssen wir das transportieren. Das braucht Zeit und ist sehr anstrengend.
Über die Entscheidungsfreiheit in der Einrichtung:
Es gibt natürlich Vorgaben, da gibt es nicht die Entscheidung, mach ich das oder mach ich es nicht, sondern diese Vorgaben durch die Behörden sind einzuhalten. In welcher Weise wir das umsetzen, wo wir Materialien herbekommen, wie wir die Schulungen machen, das entscheiden wir in der Graf Recke Stiftung zusammen mit dem Pandemiestab. Hier treffen sich regelmäßig Mitarbeitende, die sich speziell um diese Themen kümmern und die Qualitätsvorgaben für die einzelnen Einrichtungen auch beschreiben. Das ist sehr hilfreich, denn je klarer ich als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter weiß, was ich zu tun habe, wo ich das Material herkriege und wann ich was zu tun habe, desto mehr gibt das ja Sicherheit. Und da sind wir gut aufgestellt und haben auch von unseren Mitarbeitenden ganz deutliche Rückmeldungen bekommen, dass sie sich hier gut informiert und gut aufgehoben fühlen.
Zu immer neuen "Momentaufnahmen" im Tagesgeschäft:
Es gab eine Zeit, bevor bei uns tatsächlich der Coronaausbruch stattfand, da hätte ich gesagt: Im Altenheim ist man gut aufgehoben und relativ sicher, weil der Hygienestandard sehr hoch ist und professionell mit diesen Themen umgegangen wird. Jetzt ist aber leider ein Ausbruch erfolgt und jetzt scheint es so, als sei es draußen sicherer. Jedenfalls schien es so bis Ende letzter Woche. Inzwischen sind draußen die Zahlen wieder steigend und die Mutationen verunsichern die Menschen zusätzlich. Wir erleben in dieser Zeit mit Corona jeden Tag eine neue Momentaufnahme, jeden Tag sind wir einen Schritt schlauer, hoffentlich, und weiter als am Tag vorher. Es gibt neue Erkenntnisse und Verhaltensvorgaben, und ja, die Maßnahmen, die wir getroffen haben und die wir auch täglich neu treffen und morgen wieder treffen werden, sind immer wieder ein Stück weit ein Hinterherlaufen hinter der Pandemie. Jetzt im Augenblick bin ich dankbar, dass wir die Erstimpfungen durchführen konnten, sodass auch die Menschen, die nach dieser ersten Impfung noch coronapositiv geworden sind, einen verhältnismäßig milden Verlauf erleben, und auch die Mitarbeitenden, die erkrankt sind, nicht schwersterkrankt sind, sondern auch hoffentlich bald wieder in den Dienst kommen. Und es ist wieder eine Momentaufnahme, wenn wir dann in der nächsten Woche unsere zweite Impfung durchgeführt haben. Und ich hoffe und wünsche uns sehr, dass wir dann ein ganz kleines bisschen sicherer und auch entspannter sein können und auch wieder Kontakte zulassen können. Denn das ist ganz wichtig, dass auch unsere Angehörigen sich selber davon überzeugen können, wie es ihren Menschen hier im Haus geht.
Zu den persönlichen Erkenntnissen aus der Pandemie:
Was ganz grundsätzlich anders ist, glaube ich, dass wir alle begreifen mussten, wie hilflos wir eigentlich sind, dass wir nicht allmächtig sind, dass unser Leben endlich ist und dass wir nicht alles, was wir glaubten, in der Hand zu haben, auch wirklich in der Hand haben.
Zur öffentlichen Diskussion des Themas Corona.
Hochkomplexe wissenschaftliche Themen werden in der Bevölkerung oft verkürzt diskutiert, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Ablehnung des AstraZeneca-Impfstoffs. Es ist oft so, dass solche komplexen Themen in unserer Short-message-Gesellschaft gar nicht in dieser Vollumfänglichkeit diskutiert werden, wie das notwendig wäre, sondern dass nur die Überschriften gelesen werden, aber der komplexe und tiefgehende Anteil der Nachrichten nicht so beachtet wird.