Weg mit den Vorurteilen - Gemeinsam gegen das Stigma »Heimkind«

Von Anke Bruns

Wir sind doch keine Heimkinder lautet der Name einer neuen Initiative, die die Graf Recke Stiftung in diesem Jahr gegründet hat. Das Ziel der Initiative: Vorurteile gegenüber »Heimkindern« abbauen. Und alle können mitmachen: Jugendhilfeeinrichtungen, Kirchengemeinden, Jugendgruppen, Schulen, Einzelpersonen ... Je mehr, umso besser. Entstanden ist die Initiative während der Dreharbeiten für die Dokumentation Wir sind doch keine Heimkinder. In dem Filmprojekt haben heutige und ehemalige »Heimkinder« erkannt, dass sie seit Jahrzehnten gleichermaßen stigmatisiert werden.

Gibt es hier nur Jungen oder auch Mädchen?«, fragt Herbert Schneider die drei Jugendlichen an seiner Seite. »Gemischt«, antwortet Alex ihm. Der 16-Jährige führt Herbert Schneider über den Campus der Graf Recke Stiftung in Hilden, gemeinsam mit Kai und Manuel. Die drei sind Mitglieder im Kinderund Jugendrat der Stiftung. »Gemischt?« Herbert Schneider zieht etwas ungläubig die Augenbraue hoch. »Da habt ihr aber Glück. In Düsseldorf gab’s das nicht«, sagt er und wandert mit seinen Gedanken kurz in die 1960er-Jahre zurück.

Herbert Schneider war als Kind in den Düsselthaler Anstalten, dem Kinderheim der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf. Jungen und Mädchen waren streng getrennt untergebracht. Herbert Schneider hat keine guten Erinnerungen an diese Zeit. »Die waren nicht zimperlich mit uns.« Aber davon möchte er an diesem Nachmittag nicht erzählen. Er ist nach Hilden gekommen, um mal zu sehen, wie »Heimkinder « heute so leben.

Manuel (13) und Andrew (13) nehmen ihn mit in ihre Wohngruppe auf dem Campus in Hilden. Dort leben sie gemeinsam mit fünf anderen Jungen und Mädchen im Alter von 10 bis 15 Jahren. Gemischt eben. Die beiden Jungs zeigen Herbert Schneider ihre Zimmer. Bei Andrew ist es tipptopp aufgeräumt. »Ich mag das nicht, wenn es unordentlich ist«, sagt er. Herbert Schneider sieht den kleinen Fernseher am Fußende vom Bett. »Das Geld dafür habe ich selbst zusammengespart«, erklärt Andrew ihm. Herbert Schneider hat früher mit vielen anderen Jungs in einem großen Raum geschlafen. Bett an Bett. Ein eigenes Zimmer gab es nicht. Nicht für ihn. Und auch für kein anderes Kind.

Das Leben in einer Wohngruppe heute - das Leben im Heim früher

Das Leben in einer Wohngruppe heute unterscheidet sich sehr vom Leben im Heim früher. Das sieht Herbert Schneider sofort. Aber eine Sache hat sich in den 60 Jahren nicht geändert: nämlich, dass die Kinder und Jugendlichen mit sehr vielen Vorurteilen konfrontiert werden. Heimkinder galten früher per se als schwer erziehbar und kriminell. Von »Heimkindern« hielt man sich besser fern. Dieses Vorurteil besteht auch heute noch oft. Leonora macht das wütend. Sie wohnt auch in der Gruppe. Eine Freundin wollte sie mal besuchen, durfte das aber nicht. »Ihre Eltern hatten Angst, dass ihr hier bei uns was passiert.« Diese Erfahrung hat Leonora auch in der Filmdokumentation Wir sind doch keine Heimkinder geschildert. Die Autorin dieses Artikels hat sie im Auftrag der Graf Recke Stiftung erstellt, mit dem Ziel, über das »Leben im Heim« früher und heute zu informieren, überwiegend aus der Sicht der »Heimkinder«. Herbert Schneider erzählt in der Dokumentation von seinen schlimmen Erfahrungen damals und dass er sich niemandem anvertraut hat. »Wer hätte schon einem Heimkind geglaubt?«, fragt er. »Wir wurden doch abgestempelt.«

»Abgestempelt werden« – das kennen viele Kinder und Jugendliche, die heute in der sogenannten stationären Jugendhilfe leben, auch. Also verschweigen sie oft lieber, wo und wie sie leben. Fachleute wie Prof. Dr. Holger Wendelin von der Evangelischen Hochschule Bochum halten das für bedenklich. Die Kinder und Jugendlichen in den Wohngruppen haben es in diesem Kontext schwer, eine Identität zu finden. Das, was hinter ihnen liegt, ist oft mit negativen Erfahrungen behaftet. Und durch die Stigmatisierung als »Heimkind« werden sie dazu gebracht, auch ihre jetzige Lebenssituation zu verleugnen.

Bevor Herbert Schneider die Wohngruppe in Hilden besuchte, hatte er sich mit einigen Mitwirkenden der Filmdokumentation getroffen. Denn alle hatten im Verlauf der Dreharbeiten das Bedürfnis verspürt, gemeinsam etwas gegen die Vorurteile zu machen. Alex vom Kinderund Jugendrat meinte, man müsste die Dokumentation überall zeigen und darüber sprechen. Michael Mertens, Leiter der Graf Recke Erziehung & Bildung, schlug vor, Schulen mit Lehrmaterial zu versorgen, damit die Lehrer das Thema im Unterricht behandeln und so frühzeitig Vorurteile ausräumen können. Und Herbert Schneider erklärte sich bereit, bei öffentlichen Veranstaltungen von seinen Erfahrungen früher zu erzählen. Dieses Treffen 2018 war die Geburtsstunde der Initiative Wir sind doch keine Heimkinder. Im Februar 2019 wurde sie samt der Filmdokumentation öffentlich vorgestellt. Die Initiative ist offen für alle, die mitmachen und ihren Teil dazu beitragen möchten, Vorurteile gegenüber »Heimkindern« abzubauen.

Auf der Website www.wir-sind-doch-keine- heimkinder.de kann sich jeder die Dokumentation (52 Minuten) anschauen. Die Graf Recke Stiftung hat zudem von unabhängigen Experten Arbeitsblätter für den Unterricht und dazu passend eine kürzere Fassung des Films erstellen lassen. Auch dies kann kostenlos heruntergeladen werden.

Andere Träger gewinnen

Die Initiative möchte gerne möglichst viele Einrichtungen und Träger dafür gewinnen, mit einzusteigen und etwas gegen das »Stigma Heimkind« zu unternehmen. Wie das in der Praxis aussehen kann, ist ein Thema beim Fachtag »Partizipation versus Stigma« am 26. Juni in der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf. Experten aus Praxis und Wissenschaft diskutieren bei dem Fachtag über die Folgen der Stigmatisierung und wie es gemeinsam gelingen kann, das Stigma abzubauen. Und wie die Kinder und Jugendlichen trotz vorhandener Vorurteile befähigt werden können, über ihren Alltag zu sprechen. Denn nur so kann ein aktuelles Bild zum »Leben im Heim heute« in der Gesellschaft wachsen.

Partizipation ist ein Kernanliegen der Initiative. Von Beginn an waren Kinder und Jugendliche bei der Entwicklung von Ideen und Strategien mit eingebunden. Einer von ihnen ist Alex. Er hat während der Filmarbeiten und bei der Gründung der Initiative immer wieder deutlich erklärt, wie wichtig es ihm ist, dass die Vorurteile gegenüber »Heimkindern« endlich verschwinden. Der Jugendliche war lange im Kinder- und Jugendrat der Graf Recke Stiftung aktiv und wurde im Mai dieses Jahres in den elfköpfigen Landesheimbeirat NRW gewählt. Er spricht das Wort »Heim« ganz selbstbewusst aus. Die meisten Kinder und Jugendlichen in den Wohngruppen meiden diesen Begriff. Er ist bei ihnen wie in weiten Teilen der Gesellschaft negativ belegt. »Heim, das ist doch so was, wo man geschlagen wird«, erklärt Manuel seine Ablehnung.

Mario Adorf Erfahrungen

Der bekannte Schauspieler Mario Adorf (88) sieht das ganz anders. Mit drei Jahren kam er in seiner Heimatstadt Mayen (Eifel) in ein katholisches Kinderheim. Er schrieb der Initiative Wir sind doch keine Heimkinder, dass er sie sehr gerne unterstützt, auch wenn er selbst keine schlechten Erfahrungen gemacht hat: »Ich habe das nie verschwiegen und mich dessen nie geschämt. Und ich musste, ehrlich gesagt, auch keine Stigmatisierung erfahren. Sicher ist es schwer, nicht in einer Familie aufzuwachsen. In dem Wort Heimkinder steckt aber immerhin das Wort ›Heim‹. Ich meine, da gibt es doch Schlimmeres, zum Beispiel ›Straßenkinder‹. Sollte man anstatt ›Wir sind doch keine Heimkinder‹ nicht eher sagen: ›Wir sind Heimkinder, na und?‹«

Michael Mertens vom Geschäftsbereich Graf Recke Erziehung & Bildung hat sich sehr über diese Zeilen gefreut. »Wenn mehr bekannte Persönlichkeiten wie Mario Adorf offen bekennen würden, dass sie mal im Heim waren, wäre das hilfreich, um die Vorurteile auszuräumen.« Michael Mertens liegt sehr daran, die Initiative Wir sind doch keine Heimkinder breit aufzustellen. »Dies ist keine exklusive Initiative der Graf Recke Stiftung. Wir haben sie aus dem Filmprojekt heraus angestoßen und Geld in die Hand genommen, damit sie auf die Füße kommt. Aber alleine können wir dieses dicke Brett nicht durchbohren.« Jugendhilfeeinrichtungen, Kirchengemeinden, Einzelpersonen – alle können etwas tun, zum Beispiel den Film zeigen und darüber diskutieren oder das Lehrmaterial im Unterricht einsetzen. Wer möchte, bekommt auch ein eigenes Unterstützer-Fähnchen auf der Website der Initiative.

Ein Fähnchen trägt jetzt schon den Namen Herbert Schneider. Am Ende seines Rundgangs durch die Wohngruppe Talamod schaut er sich noch den Snoozleraum an: mit weißen Tüchern geschmückte Wände, beleuchtete Wassersäulen im Raum und sanfte Musik im Hintergrund. Ein Ort zum Entspannen. »Das ist ja was Feines«, meint Herbert Schneider einmal mehr sichtlich erstaunt. »Da könnte sogar ich mich abends wohlfühlen.« Andrew schaut den Besucher interessiert an: »Früher hat man so was nicht bekommen, oder?«, fragt er ihn vorsichtig. »Ne, früher gab’s so was nicht«, antwortet Herbert Schneider. Zum Schluss sitzt er noch kurz mit Gruppenleiterin Angela Babbaro, Manuel, Andrew und Leonora im Wohnzimmer zusammen. »Also ich habe den Eindruck, dass sich die Jungs hier wohlfühlen müssen«, sagt er, schaut kurz nach links zu Leonora und ergänzt: »Und die Mädel natürlich auch.«

Weg mit den Vorurteilen: Veranstaltungen gegen die Stigmatisierung

Weg mit den Vorurteilen – die Graf Recke Stiftung möchte der Stigmatiierung von Menschen mit Unterstützungsbedarf aktiv entgegenwirken. Gemeinsam mit heutigen und ehemaligen Bewohnern der Jugendhilfe, Klienten aus dem Sozialpsychiatrischen Verbund und engagierten Mitstreitern sendet sie auf verschiedenen Kanälen Zeichen gegen Vorurteile und zeigt, wie das Leben in Einrichtungen der Stiftung heute aussieht. Im Juni finden zum Thema diverse Veranstaltungen statt, auch auf dem Kirchentag in Dortmund.

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