Weg mit den Vorurteilen - Stehaufmännchen gegen die Stigmatisierung

Von Roelf Bleeker, Bildmotiv: Autorin Christiane Wirtz, Fotograf: Norman Wollmacher

Zwischendurch war Christiane Wirtz kurz davor, es sein zu lassen, »das mit dem Buch«. »Es ist ein Fass ohne Boden, ein wirklich verrücktes Unterfangen«, schreibt sie – in eben diesem Buch. Denn: Sie hat es nicht sein gelassen. Im letzten Jahr ist das Buch erschienen und hat es in die Top 20 des Literatur-Spiegels geschafft: »Neben der Spur. Wenn die Psychose die soziale Existenz vernichtet« lautet der Titel. Geschrieben hat die 52-Jährige ihre Geschichte in höchst persönlicher Weise nach einem langen Leidensweg durch fünf Psychosen in fast zwei Jahrzehnten. Geschrieben hat sie, um dem Stigma der psychischen Erkrankung entgegenzutreten. »Ein depressiver Gedanke – mit so etwas kann man sich immer vom Handeln abhalten lassen«, sagt Christiane Wirtz über ihre Phasen des Zweifels am Buchprojekt. Sie hat gelernt, mit solchen Anfechtungen umzugehen. Sie hat weit mehr als einige depressive Gedanken überwunden: Sie hat erlebt, wie die Psychose ihre soziale Existenz vernichtete, und dennoch zurückgefunden ins Leben.

Immer abstrusere Wahnwelten

Mit 34 Jahren erhielt die heute 52-Jährige erstmals die Diagnose »Schizophrenie«. Ab da begann ihr Kampf um ihre Existenz, es folgten vier weitere Psychosen und der Absturz – Christiane Wirtz verlor Wohnung, Geld und vor allem: jeden Halt. Persönliche Enttäuschungen und seelische Verwundungen kompensierte sie mit immer abstruseren Wahnwelten: »Es gab keine völlige Identitätsabspaltung «, erzählt die in Leverkusen geborene Wahl-Kölnerin. »Aber ich habe versucht, mit Fantasien über wunde Punkte und starke Verletztheiten in meinem Leben hinwegzukommen.« So gab sie an, ihre Eltern seien gar nicht ihre richtigen Eltern, sie sei von ihnen entführt worden. Christiane Wirtz machte in ihrer Welt nicht nur wechselweise John F. Kennedy und Mick Jagger zu ihren Vätern und den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu zu ihrem Cousin, sie reiste aufgrund solcher Vorstellungen zum Beispiel auch nach Israel, um ihren vermeintlichen Cousin dort zu besuchen, und verstrickte sich vor Ort in immer tiefere Irrungen und Wirrungen.

Wie blickt die Christiane Wirtz von heute auf die von damals? »Ich war ja kaum eine andere Person. Ich habe ja nicht geleugnet, dass ich Christiane Wirtz war oder Journalistin oder nach Köln gezogen bin oder irgendein anderes Faktum aus meinem Lebenslauf.« Wie also denkt sie heute darüber? »Natürlich habe ich in meinen Psychosen verrückte Dinge getan, aber ich muss nicht im Büßerhemd herumlaufen.« Sie leugne nicht den »Murks«, den sie damals veranstaltet habe, sie wisse aber auch, was sie in ihrem Leben schon alles geschafft habe. »Also: Ich verdamme mich nicht, ich kann mich auch mit meinen Fehlern liebevoll annehmen. Wenn mir das nicht gelingt, dann spalte ich ja schon wieder etwas von mir ab.« Und sie fügt hinzu: »Ich kann mich in meinem Wahn sogar ein bisschen wiedererkennen. Ich habe viele verrückte Dinge getan, aber ich habe immer an rechtsstaatliche Prinzipien geglaubt. Ich habe und hatte dieses Gerechtigkeitsgefühl, nur war es komplett aus der Balance.«

Ihren Aufruf, sich als psychisch erkrankter Mensch nicht stigmatisieren zu lassen, verknüpft Christiane Wirtz in ihrem Buch mit einer enormen Offenheit. Sie beschreibt ihre wahnhaften Verhaltensweisen schonungslos – und auch witzig: »So ist das Leben«, sagt sie, »manchmal ist es auch tragikomisch.« Und setzt hinzu: »Mehr Humor in dieser Sache tut gut.« Auch wenn die Situation für psychisch erkrankte Menschen alles andere als witzig ist, sondern gefährlich. Dass sie für sich selbst eine Entstigmatisierung fordern, könne man von akut psychotischen Menschen kaum erwarten, sagt Christiane Wirtz. »Zumal die Allermeisten in solchen Phasen davon ausgehen, dass sie gar nicht krank sind.« Wer aber diese Forderung stellen sollte, sagt sie, seien alle im Umfeld. Denn überhaupt sei es von ganz entscheidender Bedeutung, wie sich Familie, Freund oder Bekannte verhalten: »Das Mitgefühl anderer während der Psychose ist wie das letzte Band, das den Verrückten doch immer wieder noch an die Allgemeinheit, die Gemeinschaft anschließt«, schreibt die Autorin im Buch. Empathie sei ein »Rettungsanker für ein Schiff, das sich wahrlich auf stürmischer See befindet«.

Würde Christiane Wirtz Empathie als entscheidende Haltung bezeichnen, die es im Umfeld und in der Gesellschaft braucht? »Ja, Empathie ist entscheidend in der akuten psychotischen Phase und auch danach.« Auch war und ist ihr wichtig, dass ihr Menschen, denen sie in ihren Krankheitsphasen Unrecht getan und die sie verschreckt hatte, verziehen haben. »Und es war mir auch wichtig, dass diese Menschen sagten: Wir kennen dich auch anders und haben Hoffnung, dass es wieder so werden kann.«

»Resilenz ist die Eigenschaft des Stehaufmännchens«

Heute ist Christiane Wirtz an diesem Punkt. Die Empathie und das Festhalten an ihr von Familie und Freunden haben ihr Selbstwertgefühl durch die Zeit ihrer Erkrankung hindurch gerettet und restauriert. Das Selbstwertgefühl ist für sie ein wichtiges Fundament für den Wiederaufbau der Resilienz, wie Fachleute sagen: die psychische Widerstandskraft und Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu überstehen. Oder, wie Christiane Wirtz schreibt: »Resilienz, das ist die Eigenschaft des Stehaufmännchens.« Sie glaube, dass mehr Menschen die eigenen Möglichkeiten in sich haben, als sie selbst wüssten. »Wenn da noch ein Funke vorhanden ist, darf man den nicht missachten, man darf sich nie ganz dem Schmerz und der Scham hingeben. «

Und wie geht es Christiane Wirtz heute? Fühlt sie sich »sicher«? Ja, sagt sie – noch auf dem Weg, aber optimistisch. »Ich würde lügen, wenn ich sage, es ist alles hundertpro-heil. Aber es ist im Lot, ich versuche bei allen Dingen, die mir wehtun, auch mit mir selbst empathisch umzugehen. Ich mache langsamer und weniger Stress.« Medikamente nehme sie weiterhin, aber auf recht niedrigem Niveau. »Ich war nie psychotisch, wenn ich Medikamente genommen habe«, betont sie und ergänzt lachend: »Ich würde sie gern noch weiter reduzieren, aber mein Psychiater ist da relativ streng.«

Ihr Buchprojekt, die vielen Lesungen und Auftritte in der Öffentlichkeit helfen Christiane Wirtz. »Ich erhalte viel positive Resonanz, nicht nur von Betroffenen, auch von Angehörigen und Therapeuten, es macht mir Spaß.« Manchmal jedoch merke sie auch inneren Widerstand: »Nun ist es auch mal gut, ich muss mich nicht von morgens bis abends mit diesem Kram beschäftigen. Ich möchte auch vorankommen und nicht immer zurückblicken.«

Gut, dass sie es dennoch tut und die Öffentlichkeit daran teilhaben lässt. Um nicht nur sich selbst »schreibend aus der Krise« zu helfen, wie sie es nennt, sondern auch anderen.

Das ausführliche Interview mit Christiane Wirtz

Weg mit den Vorurteilen: Veranstaltungen gegen die Stigmatisierung

Weg mit den Vorurteilen – die Graf Recke Stiftung möchte der Stigmatisierung von Menschen mit Unterstützungsbedarf aktiv entgegenwirken. Gemeinsam mit heutigen und ehemaligen Bewohnern der Jugendhilfe, Klienten aus dem Sozialpsychiatrischen Verbund und engagierten Mitstreitern sendet sie auf verschiedenen Kanälen Zeichen gegen Vorurteile und zeigt, wie das Leben in Einrichtungen der Stiftung heute aussieht. Im Juni finden zum Thema diverse Veranstaltungen statt, auch auf dem Kirchentag in Dortmund.

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