Weg mit den Vorurteilen - »Wer sich kennt, hat weniger Berührungsängste«

Von Roelf Bleeker

Kinder und Jugendliche, die in der stationären Jugendhilfe leben, und Menschen mit psychischen Erkrankungen haben eines gemeinsam: Es gibt in der Gesellschaft viele Vorurteile und falsche Bilder von ihnen und ihren Lebensumständen. Bilder, die oft aus der Vergangenheit stammen und kein gutes Licht auf die Betroffenen werfen: Heimkinder sind schwer erziehbar und kriminell, psychisch Kranke sind unberechenbar und gefährlich. Das führt im Alltag oft dazu, dass die Betroffenen ausgeschlossen und stigmatisiert werden. Die Geschäftsbereichsleiter Michael Mertens (Graf Recke Erziehung & Bildung) und Reimund Weidinger (Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik) kennen nicht das Patentrezept, diese Mauer aus Vorurteilen und falschen Bildern zu durchbrechen. Aber sie suchen Lösungsansätze. Und werden konkret: Mit filmischen Einblicken und Fachtagen gehen sie die Entstigmatisierung aktiv an, gemeinsam Von Roelf Bleeker mit Fachleuten und Betroffenen.

Der Mehrheit der Bevölkerung fehle es an Berührungspunkten

Jeder Dritte hat in seinem Umfeld Berührungspunkte mit psychischen Erkrankungen«, sagt Reimund Weidinger. »Solche Erfahrungen sorgen dafür, anders mit der Krankheit umzugehen.« Aber der Mehrheit der Bevölkerung fehle es an Berührungspunkten. Deshalb schaffe die Graf Recke Stiftung bewusst Anlässe und Räume für Begegnungen. »Nur so kann Normalität entstehen«, sagt der Leiter der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik. Sein Fachbereich ist Modellstandort eines bundesweiten Diakonie- Projekts für Inklusion. Gemeinsame Veranstaltungen und die Zusammenarbeit im Stadtteil zwischen allen Beteiligten bauten Hemmschwellen, Ängste und Vorurteile ab, so Weidinger: »Wer sich kennt, hat weniger Berührungsängste.« Auch Weidingers Kollege Michael Mertens kennt das Thema gut: Kinder und Jugendliche in stationären Jugendhilfeeinrichtungen werden ebenfalls stigmatisiert. »Das ›Heim‹ ist für viele Menschen bis heute eine Art Gefängnis, in das niemand freiwillig geht«, so der Leiter der Graf Recke Erziehung & Bildung. »In der Jugendhilfe gibt es bis heute das Bild von den ›Schließern‹ aus der NS-Zeit, die mit Zwang und Gewalt gearbeitet haben.« Das decke sich in etwa mit dem Bild der großen Psychiatrien von früher, wo die Patienten hinter hohen Mauern eingeschlossen wurden. Aber in beiden Feldern, sowohl in der Kinder- und Jugendhilfe wie auch in der Psychiatrie, betonen beide, sieht die Praxis heute ganz anders aus.

Wie inklusiv denken wir wirklich?

Die beiden Geschäftsbereiche Erziehung & Bildung und Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik der Graf Recke Stiftung bearbeiten die Themen zurzeit besonders intensiv. Im Februar veranstaltete die Graf Recke Stiftung einen Fachtag unter dem Titel »Von der Anstalt in die Show – wie inklusiv denken wir wirklich?« mit 130 Fachleuten und Experten, auch in eigener Sache. Der Titel basierte auf einem Ereignis im vorigen Jahr: 2018 hatte ein Klient der Stiftung mit einer psychischen Erkrankung an einer TV-Castingshow teilgenommen, was vor allem in Boulevard- und sozialen Medien kontrovers diskutiert, aber auch kritisiert wurde. Für Reimund Weidinger ein gesellschaftliches Problem: »Menschen mit psychischen Problemen werden oft auf ihre Erkrankung reduziert. Dabei ist es so wichtig, dass sie sich gesellschaftlich mit ihren Begabungen einbringen können, sodass nicht ihre psychische Erkrankung im Mittelpunkt steht, sondern ihr Talent. So wird der Mensch hinter seiner Erkrankung erkennbar!«

Das hat zumindest in der skandalisierten Diskussion um die TV-Castingshow offensichtlich nicht funktioniert. Stattdessen titelte die BILD-Zeitung: »Von der Anstalt direkt zu Bohlen an den Tisch.« »Das ist dieser Reflex«, analysiert Michael Mertens: »Muss man dem nicht helfen? Kümmert sich keiner um den? Das ist dieses Bestreben, ihm Fürsorge angedeihen zu lassen, ihn damit aber in seiner Andersartigkeit zu entmündigen.«

Der Leiter des Geschäftsbereichs Graf Recke Erziehung & Bildung will dieses Bild für die Kinder- und Jugendhilfe aufbrechen und Vorurteile abbauen. Der Film und die Initiative Wir sind doch keine Heimkinder, die aus dem Geschäftsbereich heraus entstanden sind, sind ein zentraler Hebel dazu. Im Film stellt ein Team um die Journalistin Anke Bruns das heutige Leben in Wohngruppen der Jugendhilfe der Graf Recke Stiftung bewusst neben die Erfahrungen ehemaliger Heimkinder, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in den »klassischen Heimen« der damaligen »Düsselthaler Anstalten« lebten. Aus dem Filmprojekt ist nun eine breit angelegte Initiative geworden. Auch andere Träger und Einrichtungen sind eingeladen, mitzumachen und aktiv Vorurteile gegenüber »Heimkindern« auszuräumen. Zum Film wurde begleitendes Lehrmaterial entwickelt. So können Lehrerinnen und Lehrer das Thema im Unterricht aufgreifen und aktiv zur Aufklärung beitragen. Die Kollegen der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik wollen diesem Beispiel folgen und die öffentliche Wahrnehmung auch im sozialpsychiatrischen Bereich verändern. »Die Anstalt ist keine Anstalt oder jedenfalls keine mehr, wie wir sie aus Filmen wie Einer flog übers Kuckucksnest vor Augen haben«, sagt Reimund Weidinger. »Wir müssen noch mehr zeigen, wo das Zusammenspiel zwischen den Angeboten der Sozialpsychiatrie und dem Gemeinwesen des öffentlichen Lebens gelingt und wie das Leben in einer betreuten Wohneinrichtung wirklich ist!« Dazu hat er ein eigenes – kleineres – Filmprojekt in Auftrag gegeben, in dem Menschen mit psychischen Erkrankungen zu Wort kommen und von ihrem Alltag erzählen. »Es geht auch um Aufklärung«, betont Reimund Weidinger. »Burn-out wird heute gesellschaftlich akzeptiert, dahinter steht aber nicht selten eine Depression. Diese Diagnose wird aber weitaus weniger akzeptiert.« Aufklärung tue hier not im Sinne einer Entstigmatisierung seelischer Erkrankungen wie auch der Menschen. Man müsse das Thema bereits jungen Menschen nahebringen, wie es auch der Film Wir sind doch keine Heimkinder tue, betont Reimund Weidinger: einerseits, indem Vorurteile gegenüber psychisch kranken Menschen ausgeräumt und diese so entstigmatisiert werden. Andererseits aber auch als Prävention, um selbst den Umgang mit dem Thema zu erlernen: »Wie sorge ich in meinem Umfeld für seelische Gesundheit?«

Partizipation versus Stigma

So wie der Sozialpsychiatrische Verbund dem erfolgreichen Beispiel der Graf Recke Erziehung & Bildung in Sachen Film folgt, greift der Bereich Graf Recke Erziehung & Bildung die Idee der Kollegen aus dem Sozialpsychiatrischen Verbund auf, einen Fachtag durchzuführen. Am 26. Juni wird dort die Initiative Wir sind doch keine Heimkinder vorgestellt und ihr Anliegen diskutiert. Michael Mertens ist es wichtig, das Thema Entstigmatisierung in die Einrichtungen selbst zu tragen und Lösungen in einem partizipativen Prozess zu entwickeln. »Ich kann mich doch gar nicht als Bewohner einer stationären Wohngruppe outen, wenn das bei meinem Gegenüber eine Flut von negativen Bildern auslöst.« Das stürze die Kinder und Jugendlichen gleich in einen doppelten Konflikt. »Viele tun sich schwer, ihre Lebenssituation überhaupt anzunehmen. Oft machen sie sich selbst dafür verantwortlich, dass sie in einer Jugendhilfeeinrichtung leben. Und dann sollen sie auch noch laut sagen, dass sie dort leben, und sich somit selbst zum Außenseiter stempeln.« Das sei »eine hochpersönliche Entscheidung, damit rauszugehen und für Normalität zu kämpfen. Das kann überfordern und belasten.«

Der erste Schritt müsse deshalb sein, die Kinder und Jugendlichen so zu stärken, dass sie ihre Lebenssituation annehmen und sich auch trauen zu sagen, wo sie leben und wie sie leben, findet Michael Mertens. Das sei ein wichtiger Baustein, um die vielen falschen Bilder und Vorurteile mit auszuräumen. Beim Fachtag wie auch beim Kirchentag in Dortmund werden Vertreter des Jugendrates der Graf Recke Erziehung & Bildung, die sich bewusst dafür entschieden haben, diesen Kampf aufzunehmen, trotzdem für ein anderes Bild von Jugendhilfe werben. Michael Mertens ist es wichtig, dass die heutigen und früheren »Heimkinder« dabei eng von der Graf Recke Stiftung begleitet werden.

Es wäre einfacher ohne Bilder von Andersartigkeit

Ist es möglich, in der Öffentlichkeit ein anderes, vorurteilsfreieres Bild vom Leben in der Jugendhilfe oder der Sozialpsychiatrie zu erzeugen? »Es wäre deutlich einfacher, wenn es nicht immer wieder Extremfälle gäbe, wo Einzelne straffällig oder auch gewalttätig geworden sind. Fälle, die durch die Medien gehen und die natürlich Angst einflößen und Distanz schaffen«, meint Michael Mertens. Krimis etwa lebten von diesen »Bildern der Andersartigkeit, die Ängste produzieren«, so Mertens. Es sei nicht leicht, diese Bilder in der Praxis zu überwinden.

Wie Reimund Weidinger ist deshalb auch Mertens überzeugt: »Man erreicht die breite Bevölkerung nur, indem man sie einlädt zum persönlichen Kontakt. Nur so ist das Schubladendenken zu überwinden.« Komplett gelinge das nicht, ergänzt Reimund Weidinger. »Wir alle neigen dazu, in Schubladen zu denken. Das macht das Leben ja auch leichter. Die Frage ist für mich eher, mit welchem Menschenbild wir generell unterwegs sind, wie wir uns als Graf Recke Stiftung und als Gesellschaft dazu positionieren.« Denn beide Geschäftsbereichsleiter sind sich in einem einig: Der Kampf gegen Stigmatisierung und Vorurteile lohnt sich. 

Weg mit den Vorurteilen: Veranstaltungen gegen die Stigmatisierung

Weg mit den Vorurteilen – die Graf Recke Stiftung möchte der Stigmatisierung von Menschen mit Unterstützungsbedarf aktiv entgegenwirken. Gemeinsam mit heutigen und ehemaligen Bewohnern der Jugendhilfe, Klienten aus dem Sozialpsychiatrischen Verbund und engagierten Mitstreitern sendet sie auf verschiedenen Kanälen Zeichen gegen Vorurteile und zeigt, wie das Leben in Einrichtungen der Stiftung heute aussieht. Im Juni finden zum Thema diverse Veranstaltungen statt, auch auf dem Kirchentag in Dortmund.

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