Nicht gleich vom Zehn-Meter-Brett springen
Von weither eingeflogene exotische Früchte, in Plastik verpackte Lebensmittel, zu viel Fleisch auf den Tisch – Ernährung hat nicht nur Einfluss auf unsere Gesundheit, sondern auch auf die Umwelt. Mit ein paar alltäglichen Veränderungen im Ernährungsverhalten kann jeder etwas für die Klimabilanz und die Artenvielfalt tun. So weit die Theorie. Und was heißt das in der Praxis? Antworten suchten Ernährungsexperten und Stiftungsmitarbeitende in einem Workshop samt gemeinsamem Kocherlebnis.
Von Roelf Bleeker
Das Café Geistesblitz, Begegnungsort für Menschen mit und ohne psychischen Erkrankungen, ist an diesem Abend der Ort für eine andere bunte Runde: Mitarbeitende, darunter auch Küchenleiter, der Graf Recke Stiftung treffen sich in Düsseldorf-Grafenberg mit Ernährungsexperten zum Koch-Workshop "Nose to tail und Leaf to root". Bedeutet: Fleischverarbeitung von Kopf bis zum Schwanz und Gemüseverwertung vom Blatt bis zur Wurzel. Ein Beitrag zur Nachhaltigkeit, welche unter dem Titel "Zukunftskunst" Jahresthema der Graf Recke Stiftung ist.
Karl Hermann Wagner und sein Team von Procuratio haben dazu eingekauft: Auf langen Tischen stapeln sich Gemüse, Obst und andere Zutaten für diesen Abend. Procuratio ist eine Gesellschaft für Dienstleistungen im Sozialwesen mit knapp 1.300 Mitarbeitenden und Gesellschafter der DiFS GmbH, der Dienstleistungstochter der Graf Recke Stiftung. Procuratio-Gründer Karl Hermann Wagner und sein Team betonen: Alles stamme aus der Region, auch scheinbar exotische Sorten, die inzwischen auch in Deutschland angebaut werden. Auf Fleisch muss heute Abend auch keiner verzichten: Es gibt Flanksteak – von einer 14 Jahre alten Milchkuh. 18 Stunden geschmort, versichern die Fachleute, sei das ebenso zart wie das Fleisch von Rindern, die üblicherweise nicht älter als zwei Jahre werden, bis sie auf dem Teller landen.
Vorstand wird zur Küchenhilfe
Dem theoretischen Teil folgt die Tat. Vorstand und Geschäftsbereichsleiter werden zu Küchenhilfen, den Takt geben neben den geladenen Profis die Küchenchefs aus den Einrichtungen der Graf Recke Stiftung vor. Es wird eifrig geschnibbelt, gerührt und gehackt. Das daraus resultierende reichhaltige Buffet genießen und loben alle Beteiligten anschließend gemeinsam. Mit der Erkenntnis: "Nachhaltig kann sehr lecker sein."
Bleibt die Frage der anwesenden Vertreter der Graf Recke Stiftung: Wie setze ich die erstrebenswerten Ansprüche in der Graf Recke Stiftung um? "Frühstück, Mittag- und Abendessen für rund fünf Euro am Tag, das ist ein schon jetzt nicht auskömmliches Budget", rechnet Jürgen Büstrin, Geschäftsführer des Seniorenheims Haus Berlin, vor. Der Leiter des Sozialpsychiatrischen Verbunds, Reimund Weidinger, verweist auf die Selbstbestimmung seiner Klienten: "Ich kann ihnen nicht verordnen, was sie essen sollen." Und Guido Krähahn, der im Verselbstständigungsbereich der Jugendhilfe tätig ist, erklärt: "Die Idee der Nachhaltigkeit endet oft dort, wo die Selbstständigkeit beginnt."
Der Hinweis von Karl Hermann Wagner – "Bio ist teuer, da muss ich anderswo einsparen" – führt an diesem Abend noch zu eher skeptischen Reaktionen. Nicht schlimm, anderntags gibt es ja im zweiten Teil des Workshops Gelegenheit zur weiteren Diskussion. Den Abend beschließt eine Tour übers großzügige Gelände der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik – jetzt sind es die Ernährungsexperten, die den Erklärungen des Geschäftsbereichsleiters Weidinger lauschen.
„Nicht nur schade, wenn es nicht mehr piepst“
Am anderen Morgen an anderem Ort: Die 16-köpfige Gruppe trifft sich im Windrather Tal bei Velbert wieder. Zwischen den idyllischen Hügeln des Bergischen Landes bewirtschaftet eine Betriebsgemeinschaft den alten Schepershof mit Garten- und Ackerbau, Kühen und Schweinen und einer Käserei. Die Produkte, nach den Richtlinien des "Anbauverbandes demeter" erzeugt, verkauft die Betriebsgemeinschaft im Hofladen. An diesem Morgen zeichnet Felix Prinz zu Löwenstein, Vorstandsvorsitzender des Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft und Autor des Buches „Food Crash", zunächst das globale Bild: Ein Viertel der Treibhausgase entstehe aufgrund der Erzeugung von Lebensmitteln, so der 66-Jährige, der selbst Biolandwirt ist. Eindrücklich stellt er dar, wie Stickoxide und Ammoniak der konventionellen Landwirtschaft das Klima aufheizen und ackerbauliche Mononkulturen die Vielfalt der Arten gefährden. "Es ist ja nicht nur schade, weil es nicht mehr so piepst", sagt der Agrarwissenschaftler, "sondern das ist ein Zeichen dafür, dass das, was uns am Leben erhält, nämlich der Erhalt des Ökosystems, massiv in Gefahr gerät". Seine Berufskollegen sieht er dabei durchaus auch als Opfer: "Wenn es wenigstens die Bauern zufrieden wären, gäbe es ja zumindest jemanden, der es ist." Doch selbst die litten unter dem Status Quo, wie vielfache Bauernproteste und das Höfesterben zeigten. Die Landwirtschaft müsse umdenken und zu einem "stabilen System ohne Krücken" werden, fordert Prinz von Löwenstein.
Wo aber ist nun der konkrete Ansatz zur Verbesserung des bekannten Problems für die Graf Recke Stiftung? Procuratio-Gründer Wagner appelliert: "Der erste Schritt ist der halbe Weg." Was aber kann die Sozialwirtschaft mit ihrem "engen Kostengerüst" konkret tun, fragt nicht nur Petra Skodzig, Finanzvorstand der Graf Recke Stiftung. Die Experten verweisen auf kleinere und größere Maßnahmen: Teureres Gemüse kaufen, aber selbst waschen und damit Kosten wieder reduzieren, zum Beispiel mithilfe eines Inklusionsbetriebes; Wertschöpfungsketten kürzer gestalten, indem die Lebensmittel direkt beim Landwirt eingekauft werden. Aber auch in den Emissionshandel könnten soziale Unternehmen in Zukunft einsteigen, meint Karl Hermann Wagner.
"Erklären, begeistern, überzeugen"
"Wir müssen nicht gleich vom Zehnmeter-Brett springen", zieht Markus Eisele, Theologischer Vorstand der Stiftung, den Vergleich zu ersten Schwimmbaderfahrungen. "Zu Anfang reicht es auch, vom Beckenrand hinein zu klettern. Unsere erste Aufgabe als sozialer Träger ist natürlich der soziale Dienst für die Menschen, da sehen wir uns an vielen Stellen in Anspruch genommen." Dennoch wolle die Graf Recke Stiftung mit kleinen Projekten Zeichen für die Nachhaltigkeit setzen, wie sie es schon jetzt tut: mit einer Streuobstwiese samt pädagogischem Konzept für die eigenen Schulen und Kitas oder dem JobRad-Angebot für ihre Mitarbeitenden. Und auch Sozialpädagoge Guido Krähahn ist angesteckt von der Aufbruchstimmung: "Ich kann junge Menschen in der Verselbstständigung nicht nötigen, sich nachhaltig zu ernähren. Aber auch wenn wir nicht alle erreichen: Wir können erklären, begeistern und überzeugen."
Ein Besuch auf dem Schepershof kann da helfen. Bei der abschließenden Führung durch großzügige Ställe und über sonnige Felder vermittelt Karla Ulber ihren Gästen das Konzept der Betriebsgemeinschaft, inklusive Begegnung mit glücklichen Kühen, Kälbchen und Schweinen. Unterm betriebseigenen Windrad noch ein Gruppenfoto, dann kehren die Teilnehmenden zurück in den Alltag – mit neuen Informationen und Inspirationen und der Botschaft: Es muss nicht gleich das Zehnmeter-Brett sein.