„Schön, dass ich euch hatte!“
Ein Interview über Mut zum Leben mit Dora Lukas (87)
Frau Lukas, wie geht es ihnen?
Gut! Sehr gut! Trotz Corona. Ich bin nicht einsam. Wir treffen uns hier auf der Wiese vor dem Haus. Natürlich mit Mundschutz. Und dann trinken wir eine Tasse Kaffee und reden.
Und ich habe genug zu tun: mein Enkel bringt mir Bügelwäsche. Wissen Sie, was das heißt? 22 Oberhemden! Ich habe echt zu tun.
Sind Sie ein lebensfroher Mensch?
Ja. Ich denke positiv. Ich freue mich an der Natur und ich hoffe, dass alles wieder gut wird.
Ich habe natürlich auch meine dunklen Stunden. Dann hole ich die Fotoalben hervor, und dann fallen auch mal ein paar Tränen. Aber im Großen und Ganzen bin ich zufrieden – trotz allem!
Trotz allem?
Ja, meine Kindheit war nicht gut. Meine Mutter ist gestorben, als ich fünf Jahre alt war. Dann bekam ich eine Stiefmutter. Und ich musste schon in meiner Kindheit viel arbeiten. Lob oder Streicheln oder ein Danke - das gab es nicht. Das war überhaupt nicht drin.
Als ich erwachsen wurde, habe ich das aber nicht nachgetragen. Dann habe ich mich mit meiner Stiefmutter doch ganz gut verstanden. Sie hatte es ja auch nicht so einfach in ihrem Leben gehabt. Nachher, als Erwachsene, habe ich eben anders darüber gedacht.
Auch in ihrem Erwachsenenleben hatten sie schwere Zeiten.
Ja. Die Flucht. Auf der Flucht sind wir mit dem Schiff nach Dänemark gekommen. Ich wollte dort ja eigentlich Schneiderin werden, musste aber arbeiten. Zwei Jahre bei einem Bauern, dann fünf Jahre in einem Haushalt mit fünf Kindern. Ich war da 19 Jahre alt.
Eine Tante von mir hat mich dann nach Duisburg geholt. Sie hat gesagt: „Damit du nicht so alleine bist.“ Dort habe ich dann noch einmal vier Jahre lang in einem Haushalt gearbeitet. Und dann habe ich das erste Mal geheiratet.
Aber mein Mann war leider Alkoholiker, und das war sehr schlimm!
Nach neun Jahren kam die Scheidung. Und früher, da war Scheidung einen Makel. Ich habe aber trotzdem die Scheidung gehabt.
Und wie kamen Sie dann hierher nach Düsseldorf und in die Graf Recke Stiftung?
Ich bekam hier eine Stelle im Recke Stift, so hieß das damals. Also bei der heutigen Graf Recke Stiftung. Hier habe ich auch meinen zweiten Mann kennengelernt.
Da hat das gute Leben angefangen!
Was Hat ihnen in der schweren Zeit bis dahin Kraft gegeben?
Mein Opa war sehr christlich orientiert. Er hat mich immer mitgenommen in die Kirche. Dadurch bin ich an den Glauben gekommen, und das hat mir geholfen.
Wie hat ihnen das geholfen?
Ich bete immer abends. Und wenn es mir mal besonders schlecht ging und ich Sorgen hatte, dann denke ich, dass mir der liebe Gott trotz allem hilft. Der liebe Gott meint es gut mit mir.
Eine Freundin hat mir dann mal gesagt: "Ach, das hast du nur dir selbst zu verdanken und nicht einem alten Mann, den es gar nicht gibt."
Und was haben Sie gesagt?
(Lacht) Ich habe gesagt: ich vertraue eben da drauf und das hilft mir.
Sie hatten einen Sohn aus erster Ehe, Frank, und eine Tochter aus der zweiten Ehe, Sabine.
Ja Mit Frank hatten wir nie Probleme. Aber mit Sabine hatten wir viele Sorgen, vor allem als sie klein war. Sie musste wegen ihrer Behinderung sehr oft ins Krankenhaus, hatte viele Operationen. Aber sie hat es geschafft! Sie hat sogar bei den Paralympics in Stuttgart teilgenommen, und eine Goldmedaille im Schwimmen gewonnen. Mein Mann hatte sie früher immer zum Schwimmen üben nach Lintorf ins Hallenbad gefahren. Jeden Dienstag. Aber leider sind ja nun beide schon gestorben.
Manche Leute haben mich gefragt, wie ich das denn verkraften kann, wenn beide Kinder so kurz hintereinander sterben. Denn Frank ist ja vor sechs Jahren im Juli gestorben und im November dann Sabine. – Aber ich konnte ja nicht dauernd heulend und jammernd durch die Gegend laufen. Ich konnte es ja nicht ändern. Ich hätte meine Kinder auch lieber länger gehabt.
Haben sie es denn verkraftet?
Ja, habe ich. Natürlich: ich bin auch traurig. Vor allen Dingen an Wochenenden. Aber ich habe hier Bilder von Frank und Sabine stehen. Und auch von meinem Mann. Und dann stelle ich mich davor und sage: Schön, dass ich euch hatte!
Und in dunklen Stunden, dann nehme ich mir auch die Fotoalben. Dann gucke ich mir die Fotos an und denke an die schönen Stunden. Aber was genau mir dann hilft, das kann ich auch nicht so sagen.
Sind sie ein lebensbejahender Mensch?
Ich hatte eine Tante in Amerika. Und weil ich immer viel an meine Verwandten geschrieben hatte kannte sie auch meine Schrift. Sie hat die Schrift dann analysieren lassen. Dabei ist herausgekommen, dass ich ein Mensch sei, der gut mit den schweren Zeiten im Leben umgehen kann, und der verzeihen kann.
Fühlen Sie sich dadurch richtig beschrieben?
Ja. Ich kann schlechte Zeiten akzeptieren. Die Verluste in meinem Leben machen mich traurig, aber ich hadere nicht andauernd damit.
Ich bin jetzt so trotz allem mit meinem Leben zufrieden. Ich habe jetzt ja auch ein Urenkelchen...
Naja, es ist jetzt alles gut!
Dora Lukas‘ verstorbener Ehemann hat lange in der Graf Recke Stiftung gelebt, sie selbst lebt weiterhin in der Nachbarschaft und engagiert sich ehrenamtlich in der Graf Recke Stiftung.
Das Interview führte Dietmar Redeker, Pfarrer der Graf Recke Stiftung.