Corona hat Teilhabe ins Gegenteil verkehrt
Das Coronavirus ist schon für psychisch weitgehend gesunde Menschen eine hohe, für viele sogar zu hohe Belastung. Bei Menschen mit psychischen Erkrankungen kommt diese Belastung noch „on top“ – mit dramatischen Folgen, wie Reimund Weidinger, Leiter der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik, und Heike Lagemann, Projektsteuerung in diesem Bereich, im Interview mit Dr. Roelf Bleeker beschreiben.
Wie nehmen Sie die Auswirkungen der so genannten Coronakrise im Sozialpsychiatrischen Verbund der Graf Recke Stiftung wahr, Frau Lagemann?
Lagemann Unsere Mitarbeitenden berichten, dass Klienten, insbesondere im gemeinschaftlichen Wohnen, in Coronazeiten verstärkt angespannt sind und sich verstärkt rückziehen wollen. Auf das über Wochen geltende Besuchsverbot und die zeitweise stark eingeschränkten tagesstrukturierenden und therapeutischen Angebote reagierten sie teilweise psychotisch. Hier leisten unsere Mitarbeitende hervorragende Arbeit, damit solche Situationen nicht eskalieren.
Herr Weidinger, die Pandemie sorgt dafür, dass Maßnahmen ergriffen werden mussten und müssen, die vor kurzem noch gesellschaftlich kaum vermittelbar schienen.
Weidinger Die Maßnahmen im Laufe der Pandemie haben uns dazu gezwungen, in private Lebensbereiche einzugreifen, indem wir Menschen je nach Symptomen und Testergebnissen selektieren. Das gilt für alle Menschen in diesen Zeiten. Doch in der Eingliederungshilfe ist es noch schlimmer: Eine Isolation für einen psychisch erkrankten Menschen, der nach einem geschlossenen Klinikaufenthalt zu uns kommt und hier direkt wieder „eingeschlossen“ wird, ist kaum vermittelbar. Dies beziehe ich auf die Situation für den Fall einer Quarantäne. Zur räumlichen Herstellung eines Quarantäne- oder Isolationsbereiches nötigen wir zudem unsere Bewohnerinnen und Bewohner, ihren privaten Wohnbereich zu verlassen und abgesondert mit anderen Menschen in der Wohneinrichtung zusammenzuleben. Eine Allgemeinverfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales verfügte am 29. April 2020: „Die Einrichtungsleitung trifft die entsprechenden Vorkehrungen und kann dabei auch einseitig von bestehenden Verträgen zwischen der Einrichtung und den betroffenen Bewohnern und Patienten abweichen.“ Diese Zustände mögen Sie sich bitte für Ihren eigenen privaten Bereich innerhalb eines Mietobjektes vorstellen! Damit stehen wir unmittelbar in der Güterabwägung zwischen Gesundheitsschutz und bürgerlichen Persönlichkeitsrechten von Menschen mit Behinderung, ob geistig oder seelisch.
Ein Rückschlag für die Bemühungen des Bundesteilhabegesetzes, das sich just erst auf dem Wege der Umsetzung befindet?
Weidinger Die Coronakrise bringt uns in höchstem Tempo in neue Situationen, die wöchentlich bis täglich auf den unterschiedlichsten Ebenen neu angepasst werden müssen. Die bislang erlassenen Verordnungen greifen massiv in die Persönlichkeitsrechte insbesondere unserer Bewohnerinnen und Bewohner ein. Damit werden die Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention und all die Bemühungen zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in rasanter Geschwindigkeit in weiten Teilen ins Gegenteil verkehrt. Als Leistungserbringer werden wir gezwungen, Quarantänemaßnahmen gegenüber unseren Klientinnen und Klienten durchzusetzen. Gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung fällt es besonders schwer, diese dann auch einzuhalten. Das was wir hinsichtlich einer sozialen Teilhabe in einer Kontaktbeziehung mit den Klientinnen und Klienten aufgebaut und erarbeitet haben, wird so erheblich belastet. All das was wir zur Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung bislang bewirkt haben, droht zerstört zu werden. Unsere Bewohnerinnen und Bewohner konnten im Laufe der Pandemie das Wohnhaus nicht mehr verlassen, ohne nach einer Rückkehr, je nachdem wie sie sich gegenüber Kontaktpersonen verhalten haben, eine 14-tägige Quarantäne erwarten zu müssen, um andere nicht zu gefährden. Die dann durch den Einrichtungsträger zu ergreifenden Maßnahmen dienen natürlich dem Gesundheitsschutz. Dennoch widerspricht dies dem auch über das Bundesteilhabegesetz zu Recht sehr hoch gehobenen Normalitätsprinzips.
Was bedeutet diese Ausnahmesituation für Ihre Mitarbeitenden?
Weidinger Unsere Mitarbeitenden sollen Assistenzen zur Teilhabe sein. In der Pandemie befinden sie sich aber eher in der Rolle, alle Vorgaben, Verordnungen und Verfügungen gegenüber den Bewohnern durchzusetzen. Menschen mit psychischen Erkrankungen in dieser Zeit zu begleiten, hat wenig mit dem Anspruch im Sinne des Bundesteilhabegesetzes zu tun, wonach unsere Mitarbeitenden Menschen mit Behinderung in ihren Belangen stärken sollen, sie eine Assistenz zur Stärkung ihrer Selbstbestimmtheit sein sollen und wollen. Auch im Bereich der Heilpädagogik war und ist es im Laufe der Pandemie extrem herausfordernd, die notwendigen Maßnahmen zu vermitteln. Menschen mit geistigen Behinderungen sind häufig sehr auf körperliche Nähe aus, und unsere Mitarbeitenden müssen schon sehr kreativ werden, um ihnen das Abstandsgebot auf geeignete Weise zu vermitteln. Die Schutzmaßnahmen sind im Falle eines positiv getesteten Falles in einer solchen heilpädagogischen Einrichtung enorm, bis hin zur vollständigen Quarantäne eines ganzen Hauses. Diesen Fall haben wir ja in einer größeren Wohngruppe in einem Wohnhaus schon erlebt. Das brachte eine enorme, kaum noch zumutbare Belastung für alle Mitarbeitenden der recht großen Wohneinrichtung mit sich, die an vielen Stellen die zumutbaren Grenzen in einem erheblichen Maße überschritten haben.
Welche langfristigen Folgen hat Corona für Menschen mit Behinderung?
Weidinger Ich kann nur dringend empfehlen, sich zur gegenwärtigen Zeit mit Begehrlichkeiten und Versuchen zurück zu halten, die Auswirkungen der Coronakrise in der Eingliederungshilfe schon jetzt fachlich und sachlich bewerten zu wollen. Natürlich kann das, was schon in der aktuellen Situation in seiner Wirkung erkennbar ist, kritisch benannt werden. Ich empfehle jedoch dringend, eine Einschätzung und Bewertung mit einer gehörigen Portion Abstand zur jetzigen Situation, also zu einem späteren Zeitpunkt profund zu resümieren.