Fachtag in der Graf Recke Stiftung: Raus aus dem Tabu
Der Fachtag "Partizipation versus Stigma" der Initiative "Wir sind doch keine Heimkinder" zeigte, wie vielschichtig das Leben in Jugendhilfeeinrichtungen betrachtet werden kann. Eine einfache Botschaft gibt es trotzdem: "Geht raus und erzählt davon!"
Die Initiative "Wir sind doch keine Heimkinder" hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Vorurteile gegen das Leben in Jugendhilfeeinrichtungen abzubauen. Alles begann mit einem Film im Auftrag der Graf Recke Stiftung über das Leben von Kindern und Jugendlichen in ihren stationären Jugendhilfegruppen. In dessen Verlauf wurde den Beteiligten klar: Es braucht mehr als diesen Film. Es braucht ein Initiative mit vielen Unterstützern. Im Rahmen der Initiative fand diese Woche auch der Fachtag "Partizipation versus Stigma" in der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf-Wittlaer statt.
Der Film ist ein wesentlicher Treiber der Initiative. Nach der öffentlichen Premiere im Düsseldorfer UFA-Kino Anfang des Jahres und beim Kirchentag in Dortmund stand er auch am Anfang des Fachtags. In der Graf Recke Kirche wurde er auf einer großen Leinwand den über 100 Fachtag-Teilnehmenden vorgeführt und traf auf positive Resonanz. Selbst langjährige Kooperationspartner der Graf Recke Stiftung und Fachleute bekannten in der anschließenden Diskussion, dass sich ihr Bild von Jugendhilfe heute nach Ansicht des Films verändert habe.
Die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre war in den letzten Jahren ein Thema in der Öffentlichkeit, teilweise ein großes, aber immer negativ besetzt. Es ging um Unrecht, Schläge und Ausbeutung. Zwischenzeitlich gab es von Seiten an diesem Unrecht beteiligter Träger einen Fonds zur Entschädigung "ehemaliger Heimkinder". Der Film, den die Journalistin Anke Bruns mit ihrem Team gedreht hat, beschönigt die Vergangenheit nicht, sondern lässt ehemalige Bewohner der alten Heime zu Wort kommen, die es in beklemmender Weise bestätigen. Wie sehr das Thema jedoch tabuisiert ist, erzählt im Film eine ältere Dame: In 48 Jahren Ehe habe sie mit ihrem Mann nie darüber gesprochen, dass sie in einem Heim war. Inzwischen habe sie das getan, berichtete Michael Mertens, Leiter der Graf Recke Erziehung & Bildung anschließend, und außerdem gerade ihren 50. Hochzeitstag gefeiert. "Wenn aber im gleichen Film ein 14-jähriges Mädchen aus einer unserer Gruppen sagt, es empfinde heute genauso wie die ältere Dame damals, dann zeigt das, dass sich an der Stigmatisierung nichts geändert hat", so Michael Mertens beim Fachtag.
Was ein Stigma eigentlich ist und wie es die Identität des Betroffenen beschädigt, erläuterte Holger Wendelin, Professor an der Evangelischen Hochschule Bochum und Mitglied des Kuratoriums der Graf Recke Stiftung, in seinem Vortrag. Auch wenn Jugendhilfe heute nicht mehr auf kollektivistische und demütigende Erziehungsvorstellungen, sondern auf Individualität und Partizipation setzt, bleibe das gesellschaftliche Bild ein herabsetzendes, die soziale Identität der Betroffenen werde dadurch beschädigt. "Die Vorurteile von heute stammen aus den 50er und 60er Jahren", stellt auch Holger Wendelin fest. Und so lange die gesellschaftliche Wahrnehmung davon geprägt sei, würden Bewohner der stationären Jugendhilfe stigmatisiert.
Vorurteile ausräumen, das geht nur in einem breit angelegten, partizipativen Prozess. "Die Ambivalenz des Themas können wir damit nicht auflösen", sagt Geschäftsbereichsleiter Michael Mertens, der sich selbst gern provokativ als "Heimleiter" bezeichnet. "Aber genau diese Ambivalenz müssen wir deutlich machen, damit man darüber sprechen kann. Es ist für die Betroffenen nie einfach, das zu tun, aber wir begleiten sie dabei. Nur so holen wir das Thema aus dem Tabu."
Digitalpakt für Schulen auch für die Kinder- und Jugendhilfe
Die Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Themas wurde auch in der Podiumsdiskussion deutlich. Johannes Horn, Leiter des Jugendamtes Düsseldorf, Tanja Buck, Referentin der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Björn Hagen vom Evangelischen Erziehungsverband EREV und Doris Beneke vom Zentrum Kinder, Jugend, Familie und Frauen der Diakonie Deutschland beleuchteten es aus verschiedenen Perspektiven, bei denen die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ebenso eine Rolle spielte wie die Frage der digitalen Teilhabe. Björn Hagen fragte sich, "warum der Digitalpakt für Schulen nicht eigentlich auch für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gilt". Doris Beneke nannte den Film "berührend. Für eine Kampagne ist er zu differenziert, aber er sollte in netzwerkartigen Situationen verbreitet werden und diskutiert werden." Und Jugendamtschef Johannes Horn stellte in Aussicht, das Anliegen der Initiative in die diesjährigen Aktionen des Deutschen Städtetags zum 30. Jubiläums der UN-Kinderrechtskonvention einzubinden.
Am Nachmittag wurde die Vielzahl der Perspektiven und Aspekte in sieben Workshops noch potenziert. Weitgehend einig waren sich alle Beteiligten darin, wie das Bild von Jugendhilfe heute in die Welt getragen werden könne: durch offene Türen, Lobbyarbeit, Begegnungen zwischen heutigen und früheren Bewohnern und Mitarbeitenden, Normalität und eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. Dass sich hier eine neue Ambivalenz ergibt, gab eine Teilnehmerin bei der Vorstellung der Workshop-Ergebnisse allerdings auch zu bedenken: "Wenn zum Beispiel die Presse sich für das Thema ,Leben in der Jugendhilfe' interessiert und wir sagen, bei uns läuft alles ganz normal, dann ist das Thema für die Presse nicht mehr interessant."
Der Vielschichtigkeit, Ambivalenz und Bandbreite des Themas kann auch ein ganztätiger Fachtag mit Pädagogen, Bewohnern, Ärzten, Theologen, Journalisten und anderen Experten verschiedener Profession nicht vollends gerecht werden. Aber, bilanzierte "Heimleiter" Michael Mertens: "Es war ein Netzwerktag für die Initiative, der dazu dient, dass die Idee dahinter weiter nach vorn kommt: Weg mit den Vorurteilen".
Die Webseite der Initiative: www.wir-sind-doch-keine-heimkinder.de
Pressebilder
Fachtag in der Graf Recke Stiftung: Raus aus dem Tabu
Der Fachtag "Partizipation versus Stigma" der Initiative "Wir sind doch keine Heimkinder" zeigte, wie vielschichtig das Leben in Jugendhilfeeinrichtungen betrachtet werden kann. Eine einfache Botschaft gibt es trotzdem: "Geht raus und erzählt davon!"
Die Initiative "Wir sind doch keine Heimkinder" hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Vorurteile gegen das Leben in Jugendhilfeeinrichtungen abzubauen. Alles begann mit einem Film im Auftrag der Graf Recke Stiftung über das Leben von Kindern und Jugendlichen in ihren stationären Jugendhilfegruppen. In dessen Verlauf wurde den Beteiligten klar: Es braucht mehr als diesen Film. Es braucht ein Initiative mit vielen Unterstützern. Im Rahmen der Initiative fand diese Woche auch der Fachtag "Partizipation versus Stigma" in der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf-Wittlaer statt.
Der Film ist ein wesentlicher Treiber der Initiative. Nach der öffentlichen Premiere im Düsseldorfer UFA-Kino Anfang des Jahres und beim Kirchentag in Dortmund stand er auch am Anfang des Fachtags. In der Graf Recke Kirche wurde er auf einer großen Leinwand den über 100 Fachtag-Teilnehmenden vorgeführt und traf auf positive Resonanz. Selbst langjährige Kooperationspartner der Graf Recke Stiftung und Fachleute bekannten in der anschließenden Diskussion, dass sich ihr Bild von Jugendhilfe heute nach Ansicht des Films verändert habe.
Die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre war in den letzten Jahren ein Thema in der Öffentlichkeit, teilweise ein großes, aber immer negativ besetzt. Es ging um Unrecht, Schläge und Ausbeutung. Zwischenzeitlich gab es von Seiten an diesem Unrecht beteiligter Träger einen Fonds zur Entschädigung "ehemaliger Heimkinder". Der Film, den die Journalistin Anke Bruns mit ihrem Team gedreht hat, beschönigt die Vergangenheit nicht, sondern lässt ehemalige Bewohner der alten Heime zu Wort kommen, die es in beklemmender Weise bestätigen. Wie sehr das Thema jedoch tabuisiert ist, erzählt im Film eine ältere Dame: In 48 Jahren Ehe habe sie mit ihrem Mann nie darüber gesprochen, dass sie in einem Heim war. Inzwischen habe sie das getan, berichtete Michael Mertens, Leiter der Graf Recke Erziehung & Bildung anschließend, und außerdem gerade ihren 50. Hochzeitstag gefeiert. "Wenn aber im gleichen Film ein 14-jähriges Mädchen aus einer unserer Gruppen sagt, es empfinde heute genauso wie die ältere Dame damals, dann zeigt das, dass sich an der Stigmatisierung nichts geändert hat", so Michael Mertens beim Fachtag.
Was ein Stigma eigentlich ist und wie es die Identität des Betroffenen beschädigt, erläuterte Holger Wendelin, Professor an der Evangelischen Hochschule Bochum und Mitglied des Kuratoriums der Graf Recke Stiftung, in seinem Vortrag. Auch wenn Jugendhilfe heute nicht mehr auf kollektivistische und demütigende Erziehungsvorstellungen, sondern auf Individualität und Partizipation setzt, bleibe das gesellschaftliche Bild ein herabsetzendes, die soziale Identität der Betroffenen werde dadurch beschädigt. "Die Vorurteile von heute stammen aus den 50er und 60er Jahren", stellt auch Holger Wendelin fest. Und so lange die gesellschaftliche Wahrnehmung davon geprägt sei, würden Bewohner der stationären Jugendhilfe stigmatisiert.
Vorurteile ausräumen, das geht nur in einem breit angelegten, partizipativen Prozess. "Die Ambivalenz des Themas können wir damit nicht auflösen", sagt Geschäftsbereichsleiter Michael Mertens, der sich selbst gern provokativ als "Heimleiter" bezeichnet. "Aber genau diese Ambivalenz müssen wir deutlich machen, damit man darüber sprechen kann. Es ist für die Betroffenen nie einfach, das zu tun, aber wir begleiten sie dabei. Nur so holen wir das Thema aus dem Tabu."
Digitalpakt für Schulen auch für die Kinder- und Jugendhilfe
Die Ambivalenz und Vielschichtigkeit des Themas wurde auch in der Podiumsdiskussion deutlich. Johannes Horn, Leiter des Jugendamtes Düsseldorf, Tanja Buck, Referentin der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Björn Hagen vom Evangelischen Erziehungsverband EREV und Doris Beneke vom Zentrum Kinder, Jugend, Familie und Frauen der Diakonie Deutschland beleuchteten es aus verschiedenen Perspektiven, bei denen die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ebenso eine Rolle spielte wie die Frage der digitalen Teilhabe. Björn Hagen fragte sich, "warum der Digitalpakt für Schulen nicht eigentlich auch für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe gilt". Doris Beneke nannte den Film "berührend. Für eine Kampagne ist er zu differenziert, aber er sollte in netzwerkartigen Situationen verbreitet werden und diskutiert werden." Und Jugendamtschef Johannes Horn stellte in Aussicht, das Anliegen der Initiative in die diesjährigen Aktionen des Deutschen Städtetags zum 30. Jubiläums der UN-Kinderrechtskonvention einzubinden.
Am Nachmittag wurde die Vielzahl der Perspektiven und Aspekte in sieben Workshops noch potenziert. Weitgehend einig waren sich alle Beteiligten darin, wie das Bild von Jugendhilfe heute in die Welt getragen werden könne: durch offene Türen, Lobbyarbeit, Begegnungen zwischen heutigen und früheren Bewohnern und Mitarbeitenden, Normalität und eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. Dass sich hier eine neue Ambivalenz ergibt, gab eine Teilnehmerin bei der Vorstellung der Workshop-Ergebnisse allerdings auch zu bedenken: "Wenn zum Beispiel die Presse sich für das Thema ,Leben in der Jugendhilfe' interessiert und wir sagen, bei uns läuft alles ganz normal, dann ist das Thema für die Presse nicht mehr interessant."
Der Vielschichtigkeit, Ambivalenz und Bandbreite des Themas kann auch ein ganztätiger Fachtag mit Pädagogen, Bewohnern, Ärzten, Theologen, Journalisten und anderen Experten verschiedener Profession nicht vollends gerecht werden. Aber, bilanzierte "Heimleiter" Michael Mertens: "Es war ein Netzwerktag für die Initiative, der dazu dient, dass die Idee dahinter weiter nach vorn kommt: Weg mit den Vorurteilen".
Die Webseite der Initiative: www.wir-sind-doch-keine-heimkinder.de
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