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Für Melinda Ellmenreich und Nicole Brinkmann beginnt ein neuer Lebensabschnitt: Die Freundinnen ziehen aus ihren Elternhäusern aus und gemeinsam in eine der drei Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung im Graf Recke Quartier in Neumünster. Es ist eine aufregende Erfahrung, auch für ihre Familien und Freunde. In die Vorfreude mischt sich auch ein wenig Sorge vor dem Unbekannten. Doch zum Glück gibt es ja das Telefon.

Melinda Ellmenreich und Nicole Brinkmann haben an diesem Nachmittag ausgesprochen gute Laune. Das liegt zum einen daran, dass sie noch in Urlaubsstimmung sind, die beiden jungen Frauen sind gerade aus einer gemeinsamen Ferienfreizeit in West-Bargum an der Nordsee zurückgekehrt. Dort haben sie sich sogar ein Zimmer geteilt. Künftig werden die beiden Freundinnen zwar nicht das Zimmer, sich aber immerhin die Wohnung teilen: Sie werden in eine der drei Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung im neuen Graf Recke Quartier Neumünster einziehen. Und das ist ebenfalls ein Grund zur Freude.

„Endlich mal von Papa weg“, antwortet Melinda Ellmenreich spontan auf die Frage, auf was sie sich am meisten freut – und lacht. Es ist ein Scherz der 24-Jährigen, ihr Vater sitzt direkt neben ihr und lacht laut mit. Und doch steckt in dem Ausruf wohl auch ein Körnchen Wahrheit. Der baldige Umzug in die WG ist für Melinda Ellmenreich in der Tat ein Schritt in die Selbstständigkeit. Ihr ganzes Leben hat sie, von Urlauben einmal abgesehen, bislang mit und in ihrer Familie verbracht. Uns so ist es zugleich ein Schritt ins Unbekannte, was sie auch ein wenig besorgt. „Meistens kocht Papa für mich“, erzählt sie etwa. „In Zukunft muss ich das selber machen. Und weiß nicht, wie das geht.“

Eine Herausforderung, die Melinda Ellmenreich mit den meisten jungen Erwachsenen teilt, die von Zuhause ausziehen. Und doch ist es für sie zweifellos noch ein wenig schwieriger. „Ich habe ein bisschen Bammel, dass ich einen epileptischen Anfall kriegen könnte“, meint sie. Doch da kann sie ihr Vater beruhigen: „Es wird immer jemand da sein“, betont Karsten Ellmenreich. Ihre bisherige Betreuerin Annika wird regelmäßig auch in der WG vorbeischauen. „Wir gehen manchmal zusammen die Stadt“, berichtet die 24-Jährige, „zum Shoppen“. Wenngleich demnächst ein neuer Lebensabschnitt für Melinda Ellmenreich beginnt, vertraute Gewohnheiten muss sie deshalb keineswegs aufgeben.

Das gilt auch für Nicole Brinkmann, ihre beste Freundin. Die 21-Jährige wohnt bislang mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder zusammen, und freut sich sehr auf das Zusammenwohnen mit ihren Freundinnen, wie sie sagt. Neben Melinda ziehen auch Julia, Luna und Cathrin mit in die WG ein. Noch habe sie das Zimmer nicht gesehen, sagt sie. Im Rohbau fehlte bislang der Aufzug für den Rollstuhl. Ist der erst einmal installiert, wird aber vieles leichter. „Dann können sich alle Rolli-Fahrerinnen gegenseitig besuchen“, wie ihre Mutter Anke Brinkmann zufrieden anmerkt.

Was Nicole Brinkmann sonst noch wichtig ist in ihrem neuen Zuhause? Grillen und Disco mag die 21-Jährige gern. Und der so genannte Talker ist wichtig für sie, ein Sprachcomputer für die unterstützte Kommunikation. Denn das Sprechen fällt ihr schwer. Das unterscheidet Nicole von ihrer Freundin Melinda, die viel und gerne redet. Und so ergänzen sich die künftigen Mitbewohnerinnen fast schon auf ideale Weise.

Möglichst unabhängig

Das ist ein bedeutender Aspekt der ersten ambulanten Wohngemeinschaft für schwerst-mehrfachbehinderte junge Menschen in Neumünster überhaupt: Dass sich „im Alltag möglichst Synergien ergeben“, wie Rabea Ahrens, Leiterin des ambulanten Dienstes des Vereins „Lichtblick“, es ausdrückt. Gemeinsam mit dem 2001 gegründeten Selbsthilfeverein hatte die Graf Recke Stiftung das Projekt konzipiert. Während die Stiftung künftig die pflegerischen Aspekte übernimmt, stellt der ambulante Dienst mögliche Hilfestellungen im Alltag. Stets wird eine Assistenz vor Ort sein, die sich jedoch bewusst zurückhält, um eine möglichst große Unabhängigkeit zu gewährleisten, je nach Fähigkeiten und Ressourcen.

Die künftigen Mieterinnen und Mieter indessen waren von Anfang an mit eingebunden ins WG-Projekt. Auch bei der baulichen Ausgestaltung wurde auf die unterschiedlichen Handicaps Rücksicht genommen. So sei es etwa entscheidend, „dass man in der Küche mit dem Rollstuhl an Herd und Spüle fahren kann“, erläutert Kersten Andresen, deren Tochter Luna ebenfalls in eine der Vierer-WGs einziehen wird. Selbst Besteck und Teller haben diese und ihre Mitbewohnerinnen zusammen ausgesucht. „Das Gemeinsame ist uns wichtig, wie in einer Familie“, sagt Kersten Andresen. Im Elternhaus nehme man den Kindern aber viel zu viel ab, so ihre Erfahrung. „Das hemmt auch deren Entwicklung.“

Wie es Tochter Luna im neuen Zuhause ergehen wird, davon wird sich Freundin Lønne bei regelmäßigen Besuchen überzeugen können. Noch sind die beiden Nachbarinnen, „und aufgewachsen wie Schwestern“, erzählt die 17-Jährige. Bislang habe sie deshalb nur kurz rübergehen müssen, das werde sich ändern. „Ein bisschen traurig bin ich darüber schon, aber ich freu mich auch extrem für Luna“, sagt Lønne. Sie habe den ganzen Prozess über die letzten Monate beobachten können. Es sei „super aufregend“, auszuziehen, das werde ihr selbst sicher nicht anders gehen. „Und in Zukunft besuche ich eben nicht nur Luna, sondern auch ihre Freundinnen“, meint sie mit einem Strahlen.

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Das Graf Recke Quartier Neumünster setzt Maßstäbe über Schleswig-Holstein hinaus. Es bietet nicht nur Seniorinnen und Senioren mit unterschiedlichem Unterstützungsbedarf ein dauerhaftes Zuhause, sondern hier finden auch Kinder Betreuung und junge Menschen mit Unterstützungsbedarf ein neues Zuhause. Durch die Einbindung von unterschiedlichen und bedarfsgerechten Angeboten für alle Generationen entsteht echte Gemeinschaft und ein Lebenskonzept der gegenseitigen Hilfe. Informationen und Fakten rund ums Graf Recke Quartier Neumünster gibt es auf einer eigenen Seite.

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Anke Brinkmann freut sich, die neue Selbstständigkeit ihrer Kinder zu erleben. „Und auch ein Stück eigene Freiheit zurückzubekommen“, wie sie bekennt. Noch deutlicher hat es die zweite Tochter von Karsten Ellmenreich formuliert: „Papa, Du bekommst Dein Leben zurück“, habe diese gesagt, erzählt er. Doch er werde Melinda vermissen, wenn es soweit ist, vor allem ihr frohes Wesen. Dieses wird die 24-Jährige künftig vor allem in die WG einbringen, was die Sehnsucht nach dem Elternhaus wohl aber nicht schmälert. Sie sagt schon jetzt: „Es ist mir wichtig, dass ich immer mit Papa telefonieren kann.“

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