Die Kontrolle über das Leben zurückbekommen
Sozialarbeiterin Atia Najibullah bietet bei der Graf Recke Stiftung seit gut einem Jahr ein sogenanntes Traumacoaching an für junge Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung – und ungeklärtem Aufenthaltsstatus. So belastend die Situation für die Betroffenen ist, so dankbar sind sie für diese Form der Unterstützung. Eine Frau aus dem Libanon etwa empfindet die Treffen an der Grafenberger Allee als Gewinn, für einen Mann aus Guinea sind sie »eine Hilfe, die bleibt«. Dass dies so ist, könnte auch mit der Lebensgeschichte ihrer Trainerin zusammenhängen.
Wer seine Heimat verlassen muss und in ein anderes Land kommt, mit fremder Sprache und Kultur, hat es zweifellos nicht leicht. Wird dies aber kombiniert mit der Ungewissheit darüber, überhaupt bleiben zu dürfen, wird es oft traumatisch. Das ist in diesen Fällen durchaus wörtlich zu nehmen – und an diesem Punkt kommt Atia Najibullah ins Spiel. Sie nimmt sich seit gut einem Jahr bei der Graf Recke Stiftung genau jener Menschen an. Im Rahmen eines Landesprojekts bietet sie in Düsseldorf-Grafenberg ein sogenanntes Traumacoaching an.
Rund 30 junge Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung hat Atia Najibullah über die Monate bereits begleitet, sie beraten und gestärkt. 18 sind es aktuell, sie alle haben belastende Dinge erlebt, haben zum Teil auf der Flucht oder auch hier Depressionen oder Psychosen ausgebildet. »Aber es ist keine Therapie«, macht die Sozialarbeiterin klar. »Wir setzen da an, wo die Menschen den größten Hilfebedarf haben. Und das ist ganz oft der Aufenthaltsstatus.« Deshalb geht es in ihrem Büro nicht selten um das Verstehen amtlicher Schreiben oder die Vermittlung von Rechtsberatung. Auch das Verfassen von psychosozialen Stellungnahmen und die Vermittlung an Fachberatungsstellen gehören zu ihrem Alltag. Das sieht die Von Achim Graf 39-Jährige ganz pragmatisch. Der Mensch als individuelle Persönlichkeit steht jedoch stets im Vordergrund.

Wer mit einer Duldung oder Aufenthaltsgestattung in Deutschland lebe, lebe auch in stetiger Ungewissheit, verdeutlicht Atia Najibullah. Allein das könne krank machen. Viele wohnten auch nach Jahren noch in Flüchtlingsunterkünften, ohne Privatsphäre. Ein Vergewaltigungsopfer etwa könne so keine Sicherheit empfinden. An der Wohnsituation kann sie als Coach in der Regel nicht viel ändern. »Aber wir müssen mit beiden Augen auf den Menschen schauen«, das ist ihr wichtig. »Wir dürfen ihn nicht nur als Opfer sehen, sondern müssen auch seine Stärken erkennen, ihn auch würdigen.« Das Wichtigste nach erlebten Traumata sei, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu bekommen. »Selbstwirksamkeit « heiße das in der Fachsprache. Und genau das ist ihr Ansatz.
Bei Nour Khazem ist das offensichtlich gelungen. Die 28-Jährige stammt aus dem Libanon, hat bis 2015 dort gelebt. Sie war damals mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter nach Deutschland geflohen und hatte hier einen Asylantrag gestellt. Ihre beiden Söhne kamen in Düsseldorf zur Welt, doch in der Beziehung kriselte es recht bald. »Wir haben gelebt wie im Libanon«, berichtet sie. »Er hat für mich entschieden.« Für die junge Frau war das irgendwann nicht mehr zu ertragen. »Ich hatte oft Angst, es musste sich etwas verändern«, sagt sie. Vor gut einem Jahr hat sie sich von ihrem Mann getrennt. Ein mutiger Schritt für die gläubige Muslima, mit drei kleinen Kindern allemal, und doch habe sie sich damals nicht stark gefühlt, wie sie bekennt. »Ich hatte in dieser Zeit niemanden, der mir zugehört hätte«, erinnert sich Nour Khazem. Doch dann hatte sie vom Landesprojekt erfahren und dadurch auch vom Beratungsangebot der Graf Recke Stiftung. In der Regel trifft sie sich seitdem zweimal im Monat mit Atia Najibullah, »wenn es mal persönlich nicht geht, telefonieren wir«.Sich selbst besser verstehen
Sie habe durch die Gespräche viel gewonnen, sagt Nour Khazem. »Ich habe früher immer erst an andere gedacht, nicht an mich selbst«, das habe sie schon nach wenigen Treffen erkannt. »Das ist inzwischen viel besser.« Das Wichtigste sei, sich selbst besser zu verstehen und auch die eigenen Gefühle, meint sie. Das sei auch gut für die Kinder, besonders für ihre Tochter. Diese wisse und erfahre nun, »dass alle Menschen gleich sind und alle alles machen dürfen«, sagt die Libanesin mit einem Lächeln.
Eine Einschränkung aber gibt es: Durch ihren Status darf Nour Khazem in Deutschland derzeit nicht arbeiten, keine Ausbildung machen, auch die Stadt nicht verlassen. Dabei würde die 28-Jährige so gerne ihrem in der Heimat erlernten Beruf als Krankenpflegerin nachgehen, sogar einen Ausbildungsplatz hatte sie bereits gefunden. »Aber die Ausländerbehörde gibt keine Erlaubnis«, sagt sie. Ein Jammer für die junge Frau, die neben Arabisch auch Englisch und Französisch spricht und nach der Trennung innerhalb von wenigen Monaten Deutsch bis auf B1-Niveau gelernt hat.
So ist Atia Najibullah sich sicher, dass die Klientin ihren Weg gehen wird, »auch wenn er kein einfacher wird«, wie sie vermutet. Nicht stark? Diese Selbsteinschätzung habe Nour Khazem zum Glück überwunden. »Ich habe selten eine so starke Persönlichkeit kennengelernt«, schwärmt die Sozialarbeiterin. Solche Menschen zu treffen, ihre Entwicklung zu sehen und sie dabei zu begleiten, »das ist meine Motivation«. Dass es der 39-Jährigen dabei gelingt, sich in die Gefühlslage der Menschen und ihre spezielle Situation einzufühlen, hat zweifellos auch mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun.
Das SPZ im Internet
Das Traumacoaching der Graf Recke Stiftung, angegliedert an das Sozialpsychiatrische Zentrum (SPZ) an der Grafenberger Allee in Düsseldorf, richtet sich an Menschen mit individuellen Förderbedarfen, insbesondere Personen mit ungewissem Aufenthaltsstatus. Das zunächst bis Sommer 2023 befristete Projekt ist Teil der Landesinitiative »Durchstarten in Ausbildung und Arbeit« mit einem Fördervolumen von 50 Millionen Euro. Die Stadt Düsseldorf hat sich der Initiative angeschlossen. Das Projekt umfasst insgesamt sechs Förderbausteine, die insbesondere jungen geflüchteten Menschen eine Chance auf nachhaltige Integration eröffnen sollen. Neben individuellem Coaching gehören hierzu unter anderem berufsbegleitende Qualifizierung und Sprachförderung sowie schul-, ausbildungs- und berufsvorbereitende Kurse. Die Teilnahme ist freiwillig und kostenlos.
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Atia Najibullah stammt aus der afghanischen Hauptstadt Kabul, sie ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. »Ich war in der sechsten Klasse, als die Taliban kamen, als sie wieder abzogen, war ich 18«, sagt sie. Der Abzug war ein Glück, so konnte sie danach an der Universität studieren, Sprachwissenschaften in ihrer Muttersprache Dari. Krieg, Armut, Hunger, Unterdrückung – vieles davon hat sie selbst erlebt. Atia Najibullah hat nach ihrem Abschluss nur wenige Monate an einer Mädchenschule unterrichtet, bevor sie nach Deutschland zog.
2008 war das, sie sprach kein Wort Deutsch, außer ihrem Abitur wurde kein einziger Abschluss anerkannt. Nach diversen Jobs, unter anderem in einem Fast- Food-Restaurant, und einem Intensivkurs in Deutsch begann Atia Najibullah noch einmal von vorn und studierte Soziale Arbeit an der Uni Duisburg-Essen. Schon während des Studiums arbeitete sie in einer Beratungsstelle für Frauen, die Opfer von Menschenhandel oder Zwangsprostitution geworden waren. Später beriet sie in Düsseldorf Geflüchtete, die Gewalt erfahren haben, ließ sich zudem zur »Traumazentrierten Fachberaterin « ausbilden – und hatte ihr Thema gefunden. »Sicherlich keine leichte Kost«, räumt sie ein – und könnte sich doch nichts Erfüllenderes vorstellen.
Das liegt auch an Menschen wie einem 27-Jährigen aus Guinea. Er, der seinen Namen nicht verraten mag und Alpha genannt werden möchte, floh 2017 nach Deutschland. Durch seine Foltererfahrung während der Flucht sei er »hochtraumatisiert«, was bei ihm auch zu körperlichen Symptomen geführt habe, merkt Atia Najibullah an. Dazu lebe er bis heute in einer Flüchtlingsunterkunft, gemeinsam mit seiner Partnerin und mittlerweile zwei kleinen Kindern. Die stetige Angst vor einer Abschiebung belaste ihn zusätzlich.

Und doch möchte Alpha reden: über sein Leben, seine Ängste, aber auch seine Hoffnungen. Wenngleich er inzwischen gut Deutsch spricht, erzählt er lieber auf Französisch, die Sprach- und Integrationsmittlerin Nathalie Köhler dolmetscht derweil, wie sie das oft für ihn tut.
»Ich habe Angst, in meine Heimat zurückgeschickt zu werden«, sagt Alpha gleich zu Beginn. Er höre immer wieder davon, dass Menschen abgeschoben werden. In seinem weiteren Umfeld sei das bereits passiert. »Aber in Guinea wäre ich nicht sicher.« Und doch gehe es ihm besser, seit er Termine bei Frau Najibullah habe. »Sie gibt mir gute Ratschläge und sagt, dass ich mir keine Sorgen machen muss«, meint Alpha. Zumindest, solange er über eine Ausbildungsduldung verfügt.
Denn anders als Nour Khazem darf Alpha arbeiten, mehr noch: Er muss! Der 27-Jährige macht zurzeit eine Ausbildung zum Maler. Um bleiben zu dürfen, muss er jedoch die Prüfung bestehen, Schlafprobleme hin oder her. Insbesondere vor dem theoretischen Teil hat Alpha Respekt. »Auf der Baustelle funktioniert das gut, es ist mein Traumberuf«, versichert er – wenn er denn im Kollegenkreis nicht schon schlechte Erfahrungen gemacht hätte. »Einige sind sehr streng mit mir, sagen, ich soll deutsch sprechen, sogar wenn ich mit meinen Freunden telefoniere«, umschreibt Alpha das Problem vorsichtig. »Aber ich habe entschieden, dass ich das erst nach der Ausbildung anspreche.«
Für Atia Najibullah ist klar, was Alpha bedrückt: Es sei diese Form von Alltagsrassismus, der verletze, »der auch krank machen kann«. Von den Problemen mit den Behörden ganz zu schweigen. So hat das guineische Paar, das sich in Europa kennengelernt hat, bislang nur in der Moschee geheiratet, für eine standesamtliche Trauung fehlten die von Amts wegen vorgeschriebenen Papiere seiner Verlobten. »Aber die sind schwierig zu bekommen, wenn man keine Verwandten mehr in der Heimat hat«, sagt Alpha mit einem Schulterzucken.
Die Gespräche geben Kraft
Doch er will sich nicht beklagen. In vielen Fällen könne er jetzt Frau Najibullah um Rat fragen, wenn er etwa einen Brief bekomme, den er nicht verstehe. Atem-, Achtsamkeits- und Distanzierungsübungen helfen ihm zusätzlich, mit seiner Unruhe zurechtzukommen. Seine Trainerin gebe zudem ganz praktische Tipps. Dass er keinen Ärger bekommen dürfe, zum Beispiel. Schon gar nicht mit der Polizei. »Konzentrieren Sie sich auf Ihre Familie und Ihre Arbeit, sagt sie immer«, erzählt er mit einem Lächeln. Für Alpha ist zweifellos einiges leichter geworden, seit er beim Traumacoaching durch Atia Najibullah Unterstützung findet. »Die Gespräche geben mir Kraft«, meint er fast schon weihevoll. »Es ist eine Hilfe, die bleibt.«