Die Normalität der Vielfalt

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Diversitätssensible Pädagogik soll allen Kita-Kindern die gleichen Chancen und Möglichkeiten eröffnen. Dafür gilt es zunächst, die Vielfalt unter ihnen nicht nur anzuerkennen, sondern dieser auch vorurteilsbewusst zu begegnen. In den Kitas der Graf Recke Stiftung ist man dabei schon weit gekommen, darin sind sich Kari Bischof-Schiefelbein und Katharina Brück einig. Gesellschaftlich allerdings hakt laut der beiden Fachberaterinnen der Graf-Recke-Kindertagessätten gGmbH noch an der einen oder anderen Stelle

Jedes Kind ist etwas ganz Besonderes. Was für Eltern eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist zugleich eine gesellschaftliche Realität. Denn in der Tat haben Kinder unterschiedliche Hintergründe und Lebensrealitäten, die es bereits in der Kita zu berücksichtigen und anzuerkennen gilt. Dies ist der Ansatz, den die Einrichtungen der Graf-Recke-Kindertagesstätten gGmbH unter dem Stichwort „Diversität in der Kita“ verfolgen, um Chancengleichheit zu ermöglichen. Und so beschäftigten sich die Pädagoginnen und Pädagogen nicht allein auf einem Fachtag mit dieser Thematik, die so genannte diversitätssensible Pädagogik prägt längst den Alltag in den Kitas.

„Es geht um Vielfaltsmerkmale“, erläutert Kari Bischof-Schiefelbein. Dazu zählten unterschiedlichste Familienkulturen und Traditionen genauso wie etwa Sprache, Religion oder körperliche Attribute. Daraus erfolgen laut der Kita-Fachberaterin die Zugangsmöglichkeiten zur Gemeinschaft. „Und in der Kita für die Gemeinschaft im Kleinen.“ Es sei die erste institutionelle Bildungseinrichtung – und deshalb auch grundlegend, betont sie. Für die Kinder entscheidend: „Werde ich als Teil dieser Gemeinschaft gesehen? Werde ich ausgegrenzt oder werde ich wertgeschätzt?“

Denn Unterschiede seien nicht das Problem, verdeutlicht Kari Bischof-Schiefelbein. „Sie werden erst zum Problem, wenn sie bewertet werden und infolgedessen Ausgrenzung und Diskriminierung geschieht.“ Es gelte also diskriminierungssensibel auf den Kita-Alltag zu schauen, um so mögliche Teilhabebarrieren abzubauen, so die Pädagogin. Dies gelinge, indem die Kindertageseinrichtungen die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Kinder und ihr Recht auf individuelle Förderung in den Mittelpunkt ihres pädagogischen Handelns stellen. Dafür gelte es allerdings „die Mechanismen von Diskriminierung zu verstehen, um sie wahrnehmen zu können“.

Kari Bischof-Schiefelbein

Kita-Fachberaterin

Nicht in Schubladen denken

Katharina Brück ist sich dessen bewusst. Als Leiterin der Kita Muhrenkamp in Mülheim an der Ruhr hat sie mit ihrem 17-köpfigen Team an pädagogischen Fachkräften tagtäglich daran gearbeitet, die rund hundert Kinder „in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen abzuholen“, wie sie es ausdrückt. „Vielfalt soll ja etwas ganz Normales sein. Und so gehen wir auch damit um“, sagt die 34-Jährige, die gerade aus der Kita-Leitung in die Rolle einer Fachberaterin der Graf-Recke-Kindertagesstätten gGmbH gewechselt ist. Man müsse stets darauf achten, nicht in Schubladendenken zu verfallen. Denn frei von Vorurteilen sei niemand. „Wir haben alle unterschiedliche Sichtweisen, so dass man sich immer wieder hinterfragen muss“, sagt sie. Ein Fachtag zum Thema Diversität stellte jetzt in diesem Sinne für alle Fachkräfte aus den 16 Einrichtungen der Graf-Recke-Kindertagesstätten gGmbH einen interaktiven Austauschraum dar. „Denn für uns alle gilt, völlig unvoreingenommen auf die Kinder zu- und einzugehen.“

Dies reicht in Mülheim über die betreuten Kinder hinaus, ist die evangelische Tageseinrichtung Muhrenkamp doch zugleich zertifiziertes Familienzentrum. Als solches sei man „Knotenpunkt für alle Familien im Stadtteil“, sagt Katharina Brück. „Wir sind dafür da, sie anzusprechen und Unterstützung anzubieten.“ Was die Aufgabe anspruchsvoll macht: Dass Menschen unterschiedlichste Erfahrungen gemacht haben und diese auch mitbringen. Zuweilen gebe es eine Sprachbarriere, so Brück. „Aber es geht auch um eine Vielfalt an Religionen, Traditionen und Kulturen“.

Als diakonische Einrichtung feiere man christliche Feste wie Sankt Martin, Nikolaus, Weihnachten und Ostern, sagt die Kita-Leiterin. „Diese greifen wir alle auf, lassen es den Familien und ihren Kindern aber offen, sich daran zu beteiligen.“ Das gelte genauso für die täglichen, kindgerechten Mittagsgebete, die von den Kindern selbst ausgesucht werden. Zugleich jedoch thematisiere man auch regelmäßig die Rituale und Feiertage anderer Religionen. „Wir besprechen etwa das Zuckerfest, damit die anderen Kinder ebenfalls ein Gefühl dafür bekommen.“

Die Kinder selbst gehen laut der Kita-Leiterin mit der sie umgebenden Vielfalt grundsätzlich entspannt um. Das sei etwa im Rollenspiel-Bereich der Kita zu beobachten, sagt Katharina Brück. Für diesen habe man Puppen mit unterschiedlichsten Identitätsmerkmalen angeschafft, kleine und große, mit hellen oder dunklen Haaren, mit heller oder dunkler Haut. Und alles sei „Normalität“, so Brück. Damit wolle man präventiv Ausgrenzung und Herabsetzung entgegentreten. Doch sie komme oft ins Staunen, was und wie Kinder denken. „Wir erkennen, dass sie am allerwenigsten Unterschiede wahrnehmen geschweige denn bewerten“, sagt sie.

Elternarbeit die Herausforderung

Als herausfordernd erweist sich laut der Pädagogin vielmehr die Elternarbeit. Ein Beispiel sei die Verkleidungsecke in der Kita. Für sie und ihre Kolleginnen sei es beispielsweise selbstverständlich, dass Mädchen wie Jungen ein Kleid anziehen, wenn sie das möchten. „Das gehört zur Identitätsentwicklung dazu“, erklärt Katharina Brück. Es gebe jedoch gewisse Kulturen, wo so etwas bei Jungen verpönt sei. Aber man sehe sich als Anwälte der Kinder und werde das nicht verweigern. „Da müssen wir als Team auch Überzeugungsarbeit leisten, pädagogisch fundiert. Vielen Eltern ist gar nicht bewusst, was entwicklungspsychologisch dahintersteckt.“ Dass es auch um Ausprobieren gehe: „Was ist für mich wichtig, was brauche ich und wer bin ich überhaupt.“

Was ist für mich wichtig, was brauche ich und wer bin ich überhaupt.

Katharina Brück

Zuweilen allerdings geht es um Chancengleichheit ganz anderer Art: Es sei etwa nicht ausgeschlossen, dass auch ein Kind aus einer vermeintlich guten Wohngegend von Armut betroffen sei, weiß Kari Bischof-Schiefelbein. „Was müssen wir also tun, damit eine Familie gar nicht erst in die Situation kommt, Ausgrenzung zu erfahren?“ Wichtig sei zweifellos, die Eltern bei Ausflügen oder Projekten von Anfang an mit einzubeziehen, so die Kita-Fachberaterin. Eine Entscheidung könne beispielsweise sein, erst gar keine Angebote zu machen, die zusätzlich Geld kosten. „Wir können eine Kultur schaffen, die anerkennt, dass nicht alle gleich sind.“

In der Kita Muhrenkamp ist das beispielsweise der Fall. Für Familienzentren sei dies im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) auch so verankert, erläutert Katharina Brück. Ob der regelmäßige Besuch im Zoo oder des Phänomania-Erfahrungsfelds in Essen für die Vorschulkinder: Ausflüge wie diese werden ausschließlich aus dem Budget des Landes oder aus Mitteln der Graf Recke Stiftung finanziert. Das gilt ebenso für das Puppentheater, das einmal im Jahr in Mülheim gastiert, „so richtig traditionell mit Märchen- oder Kasperle-Figuren“, freut sich die Pädagogin. „Die Kinder finden das so toll, wie wir das einst erlebt haben.“

Kinderrechte nicht verankert

Also alles gut in der Kita 2024? Nicht ganz, darin sich sind beide Expertinnen einig. Neben Diversität seinen „Partizipation und Kinderrechte für uns Pädagogen ein großes Thema“, merkt Katharina Brück an. „In der Gesellschaft ist das noch nicht in dieser Form verankert. Kinder werden nicht genügend gehört.“ Kari Bischof-Schiefelbein sieht das genauso und im so genannten Adultismus die nach wie vor größte Schwierigkeit: der Machtungleichheit zwischen Kindern und Erwachsenen. „Die Herabwürdigung des Kindes, das noch nicht in der Lage sei, selbst für sich Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen.“

Bei Säuglingen sei das noch anders, da versuchten Erwachsene die Bedürfnisse des Kindes aus dessen Signalen zu ergründen und entsprechend zu handeln. „Irgendwann hören wir damit auf“, sagt Bischof-Schiefelbein. Die Kunst aber sei, das Kind weiter unterstützend zu begleiten und erst dann einzugreifen, wenn es sich oder andere in Gefahr bringen würde. In diesem Sinne sei man nie an die Grenzen der Kinder gegangen, sondern nur an die Grenzen der Erwachsenen, wie es ein Kollege einmal ausgedrückt habe. Das sei zu wenig: „Wir müssen Kinder so aufstellen, dass sie sich selbstwirksam erfahren“, macht die Pädagogin deutlich. Das sei ein ständiger Austausch- und Verhandlungsprozess, aber zugleich „die Grundlage von Demokratie als Lebensform“.

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