Die Wundertüte von Angermund

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Fünf junge Menschen leben derzeit gemeinsam in der Wohngruppe Angermund, begleitet und gefördert durch fünf Fachkräfte der Graf Recke Stiftung. Ziel ist es laut Teamleiter Patrick Frommelius, in einer gewachsenen Umgebung den Jugendlichen mit geistiger oder Lernbehinderung eine größtmögliche Selbstständigkeit zu vermitteln. In der riesigen Vorgängereinrichtung war das schwer möglich, wie sich Erzieherin Annika Reinhold erinnert. Aber das ist lange her. Für Anna, Alex, Marcel, Shania und Sophie gilt heute das Normalitätsprinzip – verlieben inklusive.

An ihre Anfänge im Mädchenheim Ratingen vor 31 Jahren kann sich Annika Reinhold noch gut erinnern. »Das war ein riesiges Gebäude, wir hatten Ziegen und Pferde«, erzählt sie. Man habe noch den Geist der diakonischen Schwestern aus den Anfangstagen gespürt. »Und abends wurde das Tor geschlossen.« Zwei Jahre hatte sie dort gearbeitet. Heute ist die 51-Jährige Erzieherin in der Wohngruppe Angermund der Graf Recke Stiftung. Hier leben junge Menschen mit einer geistigen oder Lernbehinderung in einem Einfamilienhaus inmitten einer Wohnsiedlung, betreut von fünf Fachkräften. Das Mädchenheim ist längst Geschichte, auch die Bushaltestelle »Mädchenheim« gibt es nicht mehr. Es ist zweifellos viel passiert seitdem.

Längst wohnen hier in Angermund Mädchen und Jungen zusammen, koedukativ, wie es in der Fachsprache heißt, dazu in einem gewachsenen Wohnumfeld, sagt Annika Reinhold. Es gilt das Normalitätsprinzip. So war das auch gedacht, als ab Anfang der 1990er-Jahre große Heime in kleinere Außenwohngruppen in Form von Wohngemeinschaften umgewandelt wurden. Die erste, noch reine Mädchengruppe wurde 1990 nach Lohausen ausgegründet, dann folgte bereits Angermund. Annika Reinhold hat beides begleitet, auch die Herausforderungen erlebt. »Wir sind und haben jetzt Nachbarn«, sagt die Erzieherin. Das ist Chance und Aufgabe zugleich.

Der 29-Jährige ist seit zwei Jahren Teamleiter in der Wohngruppe, kennt das Haus jedoch schon seit 2011, hatte er doch als Praktikant in seiner Erzieherausbildung hier seine ersten beruflichen Erfahrungen gesammelt. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften ist er vor vier Jahren gerne wieder zurückgekommen. In Angermund liege der Fokus nicht auf Pflege oder Kindererziehung, sondern darauf, Jugendlichen eine größtmögliche Selbstständigkeit in allen Bereichen zu vermitteln, »gemeinsam den Alltag zu gestalten«, begründet Frommelius seinen Entschluss und schaut in die Runde. »Was ich hier spannend finde: mit euch ins Gespräch zu kommen«, sagt er dann.

Anna, Alex, Marcel, Shania und Sophie, zwischen 16 und 19 Jahre alt, kennen das, wenn sich mal jemand aus der Siedlung über irgendetwas beschwert. Insgesamt aber fühlen sich die jungen Leute akzeptiert, auch wenn es im Haus zuweilen etwas lebhafter zugeht. »Ich fühle mich als Nachbarin«, macht etwa die 16-jährige Anna klar. Zwei Leute von nebenan kenne sie etwas näher. »Man trifft sich und sagt ›Hallo‹. Normal halt«, meint sie nur. Ihre Mitbewohner nicken. Klar gebe es auch »mal einen, der meckert«, bestätigt Annika Reinhold. Andere dagegen seien toll. Man nehme vor Weihnachten zum Beispiel auch füreinander Pakete an, ergänzt Patrick Frommelius. Das sei hier alles »nicht anders als anderswo«.

»Ich fühle mich als Nachbarin.«

Anna

»Man kann nur helfen, wenn man weiß, was los ist.«

Der 29-Jährige ist seit zwei Jahren Teamleiter in der Wohngruppe, kennt das Haus jedoch schon seit 2011, hatte er doch als Praktikant in seiner Erzieherausbildung hier seine ersten beruflichen Erfahrungen gesammelt. Nach dem Studium der Erziehungswissenschaften ist er vor vier Jahren gerne wieder zurückgekommen. In Angermund liege der Fokus nicht auf Pflege oder Kindererziehung, sondern darauf, Jugendlichen eine größtmögliche Selbstständigkeit in allen Bereichen zu vermitteln, »gemeinsam den Alltag zu gestalten«, begründet Frommelius seinen Entschluss und schaut in die Runde. »Was ich hier spannend finde: mit euch ins Gespräch zu kommen«, sagt er dann.

Etwa mit Alex, mit 19 Jahren der älteste am Tisch. Er wohnt seit dem 9. Dezember 2016 in Angermund, das Datum kann er genau benennen. »Aus meiner Wohngruppe im Quellengrund musste ich damals aus Altersgründen ausziehen«, erzählt er. Ab 2010 war Alex zunächst in der Wuppertaler Einrichtung der Stiftung zu Hause, »weil ich in meiner Familie nicht mehr leben konnte«, wie er erzählt. »Meine Mama war auch schwer krank geworden.« Selbst die Einzugsdaten seiner jetzigen Mitbewohner kennt er, zum Teil besser als diese selbst. »Der Gruppensprecher weiß alles«, wirft Annika Reinhold mit einem Lachen ein.

Verlässlichkeit von beiden Seiten

Doch es stimmt ja. Es sei eine der Stärken von Alex, derzeit am Berufskolleg in Ausbildung zum Fachpraktiker für Kreislauf und Abfallwirtschaft, »den Überblick zu behalten«, lobt Teamleiter Frommelius. Dass der 19-Jährige am Wochenende bis 23 Uhr wegbleiben darf, länger als die anderen, hat nicht nur mit seinem Alter zu tun. »Weil ich mich an Absprachen halte«, erklärt er seinen Sonderstatus. »Wenn ich wirklich mal zu spät komme, schreibe ich an die Betreuer.« Für diese ist das ein entscheidender Punkt: Verlässlichkeit. Daran arbeite man immer wieder neu, von beiden Seiten, sagt Patrick Frommelius. Eine Tabelle, was man ab 16 oder 17 tun dürfe, gibt es laut ihm ohnehin nicht, das sei »ganz individuell«.

Sophie weiß das. Die 18-Jährige findet es beispielsweise toll, dass sie jedes zweite Wochenende zu ihrer Familie darf, »weil ich auch sehr an meinem Stiefvater hänge«, wie sie verrät. »Mit dem pünktlichen Zurückkommen aber hat es nicht immer so geklappt.« Inzwischen hat sich das Ganze wieder eingespielt. Anna hingegen, die Jüngste im Bunde, ist von Anfang an ebenso selbstständig wie zuverlässig mit Bus und Bahn unterwegs, etwa zur Förderschule in Duisburg. Mit anderen musste das erst eingeübt werden. »Mir fällt das leicht«, sagt die 16-Jährige, die zuvor in einer Pflegefamilie gelebt hat und eher den Unterricht als anstrengend empfindet. »Ich denke, Vertrauen lernen ist Teil unserer Arbeit«, meint Annika Reinhold. Auch allen immer wieder eine Chance zu geben. Offenheit ist für die Erzieherin dabei oberstes Gebot: »Man kann nur helfen, wenn man weiß, was los ist.«

Und so ist man in der Wohngruppe Angermund bemüht, einmal am Tag gemeinsam zu essen, wobei aktuelle Dinge im Wortsinne auf den Tisch kommen. Dazu gibt es regelmäßig das sogenannte »Bewohner-Team« für die langfristigen Themen. Dabei werden nicht nur die wechselnden Aufgaben in der WG verteilt, vom Tischdienst bis zum Badputzen, die dann im Dienstplan im Flur aushängen. »Im Bewohner-Team wird auch besprochen, was wir verändert haben wollen«, sagt Alex – und erinnert bei dieser Gelegenheit an die kaputten Bilderrahmen im Wohnzimmer, die man eigentlich längst ausgetauscht haben wollte.

Neben Fotos, die die Bewohner bei gemeinsamen Ausflügen und Aktionen zeigen, sticht dort ein gerahmter Spruch hervor: »Tagsüber Zirkus, abends Theater.« Wer dafür vor allem zuständig sei? Die Blicke wandern zu Shania und Marcel, die gerade einträchtig nebeneinander auf dem Sofa sitzen. »Weil wir ein wenig aufgedreht sind. Und uns auch manchmal anzicken«, räumt die 18-jährige Shania ein. Das alles ist kein Zufall, seit Anfang des Jahres sind die beiden ein Paar. »Wir haben uns hier kennengelernt«, erzählt ihr gut ein Jahr jüngerer Freund. Keine Überraschung, dass Marcel gleich zu Anfang betont hatte, dass er froh sei, »dass wir alle keine Geschwister sind«. Die Wohngruppe sei für ihn eine andere Welt.

Ersatzfamilie, Freundeskreis, Zweck-WG: Einblicke aus Angermund

Zwischen Ersatzfamilie und Zweck-WG

Diese Welt ist für Shania dennoch so etwas »wie eine Ersatzfamilie«, wie sie es formuliert. »Ich fühle mich gut und lebe gerne hier«, sagt sie – und rührt Sophie damit zu Tränen. »Ich bin ein emotionaler Mensch«, erklärt diese ihre Reaktion. Doch so sehr sie sich über Shanias Aussage freut, die Wohngruppe sei nicht ihr Zuhause. »Zuhause ist da, wo meine Familie ist«, erklärt Sophie. »Das hier sind meine besten Freunde.«

Marcel sieht das wieder anders. Es komme selten vor, dass er mit der ganzen Gruppe was unternehme, meint der 17-Jährige. »Ich mache meist alleine was. Oder mit dem Mädchen neben mir«, witzelt er und schaut zu seiner Freundin. Was also: Ersatzfamilie, Freundeskreis, Zweck-WG? Selbst der Teamleiter tut sich mit einer Definition schwer: »Wir sind ein bisschen eine Wundertüte«, meint Patrick Frommelius. Das Spezifische der Wohngruppe Angermund sei allenfalls die leichte Intelligenzminderung der Bewohner, oft gepaart mit einer psychischen Erkrankung; die Herausforderung, »die jungen Menschen mit ihren unterschiedlichen Biografien auf ihr Leben vorzubereiten«. Man nutze dafür auch die heilpädagogische Einzelförderung durch eine Kollegin, vieles geschehe über Spiel oder Kreativität. »Was ist gerade dein Thema und wie können wir daran arbeiten?«, das sei die Frage – und zugleich tägliche Aufgabenstellung. Von der Körperpflege bis zum Umgang mit Geld.

Nicht nur für den Teamleiter, auch für Annika Reinhold ist genau das reizvoll. Sie ist nach einem einjährigen Gastspiel in einem anderen Bereich der Graf Recke Stiftung erst vor Kurzem wieder nach Angermund zurückgekehrt. Weil ihr die Gruppe gefehlt hat. »Und weil ich gemerkt habe, dass mir diese Arbeit einfach liegt.« Inklusion ist das Stichwort: Die Erzieherin will den jungen Menschen die Möglichkeit geben, »kulturelle und gesellschaftliche Prozesse zu verfolgen, indem ihnen Sachverhalte und Zusammenhänge in für sie verständlicher Sprache vermittelt werden«, wie es in der offiziellen Gruppenbeschreibung heißt. Auf die Ziegen und Pferde von früher verzichtet Annika Reinhold dafür gerne.

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