Ein neues Leben in der Arche

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Vor zwei Jahren war Sara ganz unten. Sie gab sich mit den falschen Leuten ab, kiffte fast täglich und war kaum in der Schule. Heute lebt die 16-Jährige drogenfrei, genießt das Reiten und steht vor der Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe. Ihr ist das vor allem durch eine mutige Entscheidung gelungen: Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester von zu Hause aus- und in eine Wohngruppe im Dorotheenviertel Hilden einzuziehen. Freiwillig.

Wenn Sara an ihr Leben vor zwei Jahren zurückdenkt, kann sie es selbst kaum glauben. Sie gab sich mit zwielichtigen Leuten ab, hatte ein Drogenproblem, war stark übergewichtig und ein halbes Jahr lang kaum in der Schule. Und heute? Die 16-Jährige hat ein intaktes Umfeld, lebt drogenfrei, hat 17 Kilo abgenommen und steht kurz vor der gymnasialen Oberstufe. Wie ihr all das passieren konnte, das eine, wie das andere, ist nicht so leicht zu erklären, auch für sie selbst nicht. Die Wende aber vollzog sich nach einer mutigen Entscheidung: Gemeinsam mit ihrer Zwillingschwester zog sie 2022 von Zuhause aus und in zwei benachbarte Wohngruppen im Dorotheenviertel Hilden der Graf Recke Stiftung. Auf eigenen Wunsch.

Dies hatte selbst Thomas Volbert überrascht. „Das erlebt man nur sehr selten“, sagt der Pädagoge, der zu jener Zeit seine Stelle als Teamleiter der Intensivgruppe „Arche I“ für Kinder und Jugendliche angetreten hatte, in die Sara im Mai 2022 einzog. Ihre Schwester fand einen Platz in der „Arche II“ nebenan. Das war ein entscheidender Punkt: Die Nähe „hatten wir zur Bedingung gemacht“, sagt Sara. In beiden Gruppen sei damals je ein Platz frei geworden, erklärt Volbert die Trennung, was aus pädagogischer Sicht nicht das Schlechteste gewesen sei. „So konnten sich die Mädchen unabhängig voneinander entwickeln.“

Warum die beiden sich mit gerade einmal 14 Jahren zu einem solch drastischen Schritt entschieden haben, weiß Sara noch genau. „Wir wollten mehr Ruhe in unser Leben kriegen“, sagt sie. „Und ich wollte einfach nur Abstand.“ Abstand vor allem von einem Umfeld, in das die Mädchen irgendwie hineingeraten waren und sie zu zerstören drohte. Dass es so weit kommen könnte, war lange Zeit nicht abzusehen.

Chillen im Problemviertel

Im Alter von drei Jahren war Sara mit ihrer Familie aus Iran nach Deutschland gekommen. „Es war vor allem der Plan meiner Mutter“, erzählt sie. „Iran ist sehr frauenfeindlich. Sie wollte, dass wir ohne Probleme aufwachsen.“ Und der Plan schien aufzugehen. Die Familie lebte ein Jahr in Sachsen und zog dann in den eher kleinstädtisch geprägten Stadtteil Gerresheim im Düsseldorfer Norden. „Wir hatten eine gute Kindheit, waren viel draußen und haben auch mit unseren Eltern viel unternommen“, erinnert sich Sara. Fremdenfeindlichkeit habe sie, die zweisprachig groß wurde, nie erlebt. „Wir hatten auch keinen Stress in der Familie oder in der Schule, das war alles tipi topi.“   

Wir wollten mehr Ruhe in unser Leben kriegen. Und ich wollte einfach nur Abstand.

Sara (16)

Das sollte sich ändern, als die Schwestern mit knapp 13 Jahren aufgrund des Umzugs einer Freundin anfingen, mit einer größeren Gruppe von Leuten in Garath „zu chillen“, wie die 16-Jährige es ausdrückt. Der Stadtteil im Düsseldorfer Süden gilt als so genanntes Problemviertel, und Probleme gab es auch in der neuen Clique. Es wurde geraucht, Alkohol getrunken, auch Drogen genommen. „Das war ein sehr schlechter Umgang“, befindet Sara heute, die in dieser Zeit selbst mit dem Rauchen anfing. Das Laster war ihr geblieben, als sie sich aus Garath zurückzog und wieder mehr im beschaulichen Gerresheim unterwegs war.

Doch die Abwärtsspirale war offenbar nicht aufzuhalten: Nun haben sich die Schwestern mit anderen Leuten vor dem Rathaus getroffen, „und jede Menge Mist gebaut“, wie Sara einräumt. Sie seien in verlassene Häuser eingedrungen, auch in die ehemalige Glashütte. Erwischt worden seien sie nie. Sie begann mit ihrem damalig besten Freund Alkohol zu trinken und auch zu kiffen, das ging ein halbes Jahr so. „Ich war in der Zeit oft müde, aber trotzdem im siebten Himmel. Man lacht andauernd und kriegt ständig Fressflashs.“

Zum Lachen war ihr Leben zu diesem Zeitpunkt aber längst nicht mehr. Ihre Eltern hatten sich getrennt, arbeiteten viel, und haben laut Sara irgendwann gar nicht mehr verfolgt, was ihre Töchter so treiben. Bis zur 8. Klasse in der Realschule lief demnach alles gut, „ab dem zweiten Halbjahr war ich im Prinzip gar nicht mehr dort“. Stattdessen hatte ihr Umfeld immer häufiger mit der Polizei zu tun, es kam zu Schlägereien, auch zu Nötigungen. „Wir hatten Riesenstress.“

Sie zogen die Reißleine

Als sie und ihre Schwester dann von den vermeintlichen Freunden selbst bedroht wurden, war der Punkt erreicht, die Reißleine zu ziehen. „Wir haben uns an unsere Eltern gewandt und an die Polizei. Die Sozialarbeiterin unserer Schule ging dann zum Jugendamt und dort haben wir unsere Geschichte erzählt.“  Dass es so nicht weitergehen konnte, war allen Beteiligten klar. „Wir hätten damals mehrere Wege gehen können, auch zu Hause wohnen mit Unterstützung der Familienhilfe“, erzählt Sara – und Thomas Volbert nickt.

Doch sie hätten sich dagegen entschieden, „auch weil meine Mutter mit der Situation völlig überfordert war, vor allem durch unser Verhalten“. Die Teenager hatten darüber hinaus große Angst, weiter den alten Bekannten zu begegnen. „Ich fühlte mich bedroht. Das belastet mich bis heute“, gesteht Sara. Und so begann ihr neues Leben in der Arche I, das der Schwester nebenan.

Seitdem begleitet Teamleiter Volbert ihre Entwicklung. „Es war sofort eine Beziehungsebene da“, sagt er. Er habe Sara als humorvollen Menschen kennengelernt, sie habe zudem einen intelligenten Eindruck gemacht. Und das sollte auf Ihrem weiteren Weg eine zentrale Rolle spielen: An der Förderschule mit Schwerpunkt auf Schulverweigerer, in der sie trotz des massiven Unterrichtsausfalls in die 9. Klasse einsteigen durfte und kein Mal unentschuldigt fehlte, war Sara schnell unterfordert. Im Sommer 2023 wechselte sie an die Gesamtschule, steht nun kurz vor der Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe. Niemand in ihrem Umfeld bezweifelt, dass sie die zentrale Abschlussprüfung (ZAP) im Mai bestehen wird.

Viel Motivation mitgebracht

Doch wie ist ein solcher Wandel in so kurzer Zeit möglich? Die wichtigste Frage bei einem Neueinzug sei immer: Was brauchen die Kinder?, erläutert Thomas Volbert. „Bei Sara ging es also um die Schule, dass das wieder läuft.“ Man habe einen Rahmen geschaffen, in dem sie sich selber habe entwickeln können. „Sara hat schon von sich aus viel Motivation mitgebracht“, sagt er anerkennend. Man habe im Team auch klare Grenzen gezogen und benannt, aber kaum einmal eingreifen müssen, so der Pädagoge. „Wir hatten am Anfang schon Sorge, dass sie wieder in alte Muster verfällt oder in die alten Kreise. Aber: Es ist nicht passiert.“

Das Entscheidende: Sara hat die Grenzen selbst akzeptiert, wenngleich sie von Anfang an viel wollte: das Handy nutzen, draußen sein, Freunde treffen. „Wir haben das genutzt“, meint Thomas Volbert. „Du möchtest dieses oder jenes, dann tu auch was dafür.“ Und genau das sei passiert. „Wir haben neue Schritte besprochen – sie hat das einfach gemacht“, lobt er. So habe man im Team beispielsweise einen Ernährungsplan für Sara erstellt, ein Kollege eine entsprechende App auf ihrem Handy installiert – und sie sich akribisch an die Vorgaben gehalten. Der Erfolg stellte sich ein: „Ich bin deutlich fitter als früher“, sagt Sara. „Aber mein Immunsystem ist noch nicht ganz auf Trab.“

Wir haben neue Schritte besprochen – sie hat das einfach gemacht.

Thomas Volbert, Teamleiter der Wohngruppe Arche I

Doch daran arbeitet sie, wie an ihren weiteren Punkten. Ihr großes Ziel ist das Abitur, um später Jura zu studieren. „Ich liebe es, mich für andere einzusetzen“, erklärt sie ihren Wunsch. Sie habe jetzt „noch drei Jahre Zeit für einen Eins-Komma-Abschluss.“ Dafür lernt die Schülerin viel, nimmt in ihrem Problemfach Mathe zusätzlich Nachhilfe.

Dass sie dadurch weniger Freizeit hat, fürs Malen und Zeichnen etwa oder fürs Shoppen mit Freundinnen, nimmt sie in Kauf. „Mir hat es sehr geholfen, dass man mir regelmäßig einen Tritt in den Hintern gab, aber mich auch unterstützt hat“, sagt Sara. „Und es ist immer jemand da, mit dem ich reden kann.“ Zwei Jungen und zwei weitere Mädchen leben in der Arche 1, mit denen sie sich insgesamt gut verstehe. Was ihr zudem hilft: Dass sie ihre Schwester fast täglich sieht. „Auch ihr geht es gut“, das ist ihr wichtig.

Beim Reiten den Kopf freikriegen

Für Teamleiter Volbert ist das eine Bestätigung der intensiven Arbeit beider Teams. Vorhandene Ressourcen immer wieder zu aktivieren und positiv zu verstärken, das versuche man in der Jugendhilfe, erläutert er. Dass Sara sich für andere einsetzt, sei ein solcher Wesenszug, dass sie gut argumentieren könne ein anderer. „Also sollte sie das auch für sich selbst einsetzen.“ Ein gutes Beispiel sei das therapeutische Reiten, an dem auf dem Campus fast alle Kinder teilnehmen. Aber das habe Sara nicht gereicht, „sie wollte an eine richtige Reitschule, die wir uns aber nicht leisten können“, sagt er. Und so hat Sara einen langen Brief ans zuständige Jugendamt geschrieben – und tatsächlich Geld für ein Jahr Reitunterricht erhalten.

Für sie ist das ein weiterer Erfolg, den sie sich selbst erarbeitet hat. „Ich habe gemerkt, dass mir das viel Spaß macht und ich beim Reiten den Kopf frei bekomme“, sagt sie. Sie sei ein großer Tierfreund, „wenn Tiere um mich sind, vergesse ich meine Probleme.“ Diese versuchte sie vor noch nicht allzu langer Zeit auf andere Weise zu verdrängen, „ich wollte mich ablenken“, versucht sie sich in einer Erklärung. Es war der definitiv falsche Weg, das hat sie erkannt. Dass sie darüber jetzt öffentlich spricht, soll auch anderen Mut machen, die ihr Heil in Drogen suchen sollten. „Ich habe hier“, sagt sie, „eine andere Lösung gefunden.“

 

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