Friedensengel mit Geschichte
Als Therese Holzschneider zur Welt kam, war der 1. Weltkrieg gerade zu Ende. Für ihren Vater war sie wie ein Friedensengel. Heute ist die 102-Jährige die älteste Bewohnerin im Walter-Kobold-Haus in Wittlaer und hat einiges zu erzählen, Schönes wie Tragisches. In einem allerdings ist sich die Seniorin sicher: Wenn nicht jeder nur an sich denkt, ist die Welt in Ordnung.
Das Jahr 1919 war ein bedeutendes Jahr: Am 28. Juni unterzeichnete Deutschland den Friedensvertrag von Versailles, der Erste Weltkrieg war damit formell beendet. Im Zentrum von Duisburg erblickte wenige Wochen zuvor ein ganz privater Friedensengel das Licht der Welt. Als solcher nämlich habe sie ihr Vater damals bezeichnet, berichtet Therese Holzschneider. „Aber ich war kein Engel, ich durfte bei ihm alles“, sagt sie und lacht. Sie war das Jüngste von sieben Kindern und nutzte ihre Freiheiten reichlich. Doch das ist lange her.
Denn rund zehn Jahrzehnte später ist sie nun die Älteste, zumindest im Walter-Kobold-Haus der Graf Recke Stiftung in Düsseldorf-Wittlaer, wo die 102-Jährige seit knapp zwei Jahren lebt. Und sie hat einiges zu erzählen: Von einer unbeschwerten Kindheit und Jugend mitten in der Stadt beispielsweise oder ihrem erfüllenden Beruf als Verkäuferin bei einem Herrenausstatter. Dort hatte sie auch ihren späteren Mann kennengelernt, er war ein Kunde. Aber auch vom Grauen der Bombennächte in ihrer Zeit als junge Erwachsene, als sie „von einem Kellerloch zum nächsten“ gekrochen seien, wie sie sich erinnert.
Und so fiel das Schönste und das Schlimmste für sie damals zusammen: „Am Tag meiner Hochzeit ist mein Bruder gefallen, aber das haben wir natürlich erst später erfahren.“ So tragisch deren Beginn, so beglückend empfand Therese Holzschneider ihre Ehe: „Jeder nimmt auf den anderen Rücksicht. Was der eine nicht kann, übernimmt der andere“, beschreibt sie ihr Rezept für eine gute Beziehung. Man dürfe nicht nur an sich selber denken, „dann ist für mich die Welt in Ordnung“. Sie und ihr Mann, Angestellter bei der Stadt Duisburg, hätten daher viel Zeit mit Freunden verbracht – und auch im eigenen Garten. Es war ihre Form der Erholung, im Urlaub seien sie dagegen kaum gewesen.
Nach dem Tod ihres mittlerweile pflegebedürftigen Mannes sei sie 1994 erst mal in ein Loch gefallen, gesteht Therese Holzschneider, doch ihre vielen Nichten und Neffen hätten ihr wieder Kraft gegeben. Bis heute bekommt sie von diesen regelmäßig Besuch. Obwohl selbst kinderlos geblieben, bezeichnet sie die Familie als ihr größtes Hobby. „Die bucklige Verwandtschaft“ nennt sie diese liebevoll und zeigt auf eine Reihe von Fotos an der Wand, aufgenommen bei Trauungen und Goldenen Hochzeiten. Das kleine Bild ihres verstorbenen Mannes dagegen steht im Regal. „Ich kenne ihn ja gut“, meint sie mit einem Lächeln.
Mit den Möbeln in Eiche rustikal hat Therese Holzschneider ein Stück ihres alten Lebens ins Walter-Kobold-Haus geholt. Ihren 100. Geburtstag hatte sie noch in ihren eigenen vier Wänden gefeiert, im Service Wohnen der Graf Recke Stiftung gleich nebenan. „Vom Fenster aus kann ich meine alte Wohnung sehen“, erzählt sie. Nach einem Sturz sei sie dann aber ins Seniorenzentrum umgezogen. Sie könnte es nicht besser haben, sagt die Seniorin und lobt die Pflegekräfte in höchsten Tönen. „Aber es fehlt auch was“, räumt sie ein.
Dass sie inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen ist, macht der alten Dame zu schaffen. Selbst der Weg in den Speisesaal erscheint ihr daher weit. „Jetzt bin ich sogar froh, wenn mich jemand schiebt.“ Auch das Lesen der Zeitung fällt ihr immer schwerer, das Hören ebenfalls. Sie vermisse ihre Selbständigkeit, habe Angst, wieder zu Fallen – nur um im nächsten Moment zu witzeln: „Jetzt werde ich manchmal von einem jungen Mann ins Bett gebracht, ist das vielleicht nichts?“
Möglicherweise ist es zum Teil auch ihr ureigener Humor, der Therese Holzschneider, geboren am 12. Mai 1919, ein so gesegnetes Alter geschenkt hat. Ein Geheimrezept habe sie nicht. 102 Jahre seien eigentlich auch genug, sie wolle „nicht noch wackliger werden“, meint sie dann. „Was ich aber noch kann: Ich schaue mir die Welt an, ich habe sie direkt vor meinem Fenster.“ Dort sitzt sie manchmal und zählt die Autos, „um fit im Kopf zu bleiben“, wie sie verrät. Und so hat die 102-Jährige tatsächlich noch einen Traum: den vom eigenen Balkon. Es wäre ein bisschen wie früher im eigenen Garten.