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Bis zum Sommer des vergangenen Jahres hätten ihre Eltern »ein tolles Leben« gehabt, sagt Daniela Reinhart. Dann sei alles in kürzester Zeit zusammengebrochen. Heute, mehr als ein Jahr später, kann Daniela Reinhart darüber sprechen. Das hat vor allem mit der Wohngemeinschaft Heimathafen im Graf Recke Quartier Neumünster zu tun.

Im Rückblick sagt Daniela Reinhart: »Das war ein Chaos mit Ansage.« Jahrelang habe sie versucht, mit ihren Eltern ins Gespräch zu kommen, was werden soll mit dem großen Haus, wohin sie ziehen wollen, wenn es gar nicht mehr geht. Ihr Vater habe dann nur gesagt: »Du tust, als wären wir alt.« Da war er 84. Aber – warum auch etwas ändern? Bis zum Sommer 2023 hätten ihre Eltern »ein tolles Leben gehabt«, sagt Daniela Reinhart selbst: »Sie lebten in ihrem eigenen Haus, fuhren in den Urlaub und kamen gut zurecht.« Ihre Mutter habe zwar schon seit einigen Jahren Anzeichen einer Demenz entwickelt, aber das habe das Paar, seit 60 Jahren verheiratet und geradezu symbiotisch aufeinander eingestellt, im Alltag gut aufgefangen. Mit der Erkrankung ihres Vaters aber habe sich alles verändert, sagt Daniela Reinhart. Im Juli 2023 erhielt dieser die niederschmetternde Diagnose: Krebs. Als er zur Behandlung ins Krankenhaus kam, konnte seine Frau nicht allein zu Hause bleiben, sagt Reinhart: »Damals haben meine Eltern ihr Haus das letzte Mal gesehen.«

Heute, mehr als ein Jahr später, kann die 61-Jährige gut über diese Zeit sprechen. Ihre Mutter lebt seit Mai 2024 in der Wohngemeinschaft Heimathafen im Graf Recke Quartier Neumünster. Der Weg dahin war für Daniela Reinhart ein tiefer Einschnitt, sagt sie, in der sie Dinge aus dem Leben ihrer Mutter erfahren habe, die sie früher allenfalls geahnt hatte. Für ihre Mutter habe sie zunächst einen Platz in der Kurzzeitpflege gefunden. Als auch für ihren Vater klar war, dass beide nicht nach Hause zurückkehren würden, fand ihre Tochter »mit Glück« zwei Heimplätze. »Mein Vater wollte keine gemeinsame Unterbringung. Ich konnte es mir nicht vorstellen, meine Eltern zu trennen, aber er hatte schon die letzten Jahre zu Hause mehr aufgefangen, als wir gesehen haben.« Zu diesem Zeitpunkt, im Spätsommer 2023, sei klar gewesen, dass ihr Vater nicht mehr lange zu leben hatte, sagt Daniela Reinhart. Zwei Tage vor dem Jahresende 2023 starb er.

Seine Frau habe all das schon gar nicht mehr verstanden. »Mit den Veränderungen des letzten Jahres hat die Demenz meiner Mutter einen starken Schub bekommen.« In der Senioreneinrichtung habe die 84-Jährige plötzlich höchst aggressiv agiert. »Sie hat es absolut abgelehnt, dass sie überhaupt jemand versorgt.« Vor allem Duschen sei unmöglich gewesen. Das Personal sei damit nicht mehr zurechtgekommen und ihre Mutter, die früher größten Wert auf ihr Äußeres gelegt habe, sei zunehmend verwahrlost, erinnert sich die Tochter. 

Mit den Veränderungen des letzten Jahres hat die Demenz meiner Mutter einen starken Schub bekommen.

Daniela Reinhart

Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand einordnen, was eigentlich passierte. Warum ihre Mutter plötzlich so aggressiv reagierte. Selbst ihrer Tochter gegenüber, wenn diese versuchte, die Körperpflege selbst zu übernehmen. »Ihr macht mich tot«, habe sie dann in höchster Verzweiflung geschrien. Dass ein tief sitzendes Trauma die Ursache sein könnte, war für Daniela Reinhart zu diesem Zeitpunkt durchaus ein Gedanke: »Wir wussten von ihrer Flucht aus Ostpreußen zum Kriegsende, dass sie dabei ihre Familie verloren hat.« Sie sei danach durch verschiedene europäische Heime gereicht worden, bis sie durch eine Zeitungsannonce wieder mit ihrer Familie zusammenkam. Über ihre Odyssee habe ihre Mutter gesagt: »Ich habe in dieser ganzen Zeit keine Zuwendung erlebt.« Daniela Reinhart meint: »Ich hatte immer das Gefühl, dass da mehr passiert sein muss.«

Komplett überfordert

In der Einrichtung sei es zunehmend unmöglich gewesen, ihre Mutter zu versorgen, berichtet Daniela Reinhart. »Ich habe mich intensiv mit der Thematik Demenz auseinandergesetzt, nach Selbsthilfegruppen gesucht, während ich gleichzeitig den Sterbeprozess meines Vaters begleitete und nach seinem Tod die Formalitäten erledigen musste.« Komplett überfordert sei sie gewesen. Bis sie Kontakt zur KIWA aufnahm, der Koordinierungsstelle für innovative Wohn- und Pflegeformen für Menschen im Alter in Schleswig-Holstein. Dort vermittelte man die verzweifelte Tochter ans Graf Recke Quartier Neumünster. 

In dem vor zwei Jahren eröffneten Quartier entstand gerade eine »selbstbestimmte Wohn- und Pflegegemeinschaft« für zwölf Menschen mit Demenz. Selbstbestimmt, das bedeutet, dass eine Mietergemeinschaft sich in Form einer Gesellschaft beschränkten Rechts selbst organisiert, erklärt Bereichsleiter Martin Irmer. Pflegerisch versorgt werden sollten diese vom ambulanten Pflegedienst recke:mobil, täglich begleitet von Alltagsbetreuungskräften aus dem Graf Recke Quartier. Doch es dauerte eine Weile, bis sich genügend Familien fanden, die diese eigenverantwortete WG für Menschen mit Demenz mittragen wollten und konnten. Im Mai 2024 stand fest: Es kann losgehen mit der WG Heimathafen. Diesen Namen haben die Gesellschaftsmitglieder für »ihre WG« gewählt.

»Meine Mutter kam in einer schlimmen Verfassung in die WG Heimathafen«, erzählt Daniela Reinhart. Auch wenn sie kaum verstanden habe, was mit ihr passierte: »Es war eine sehr liebevolle Aufnahme hier. Meine Mutter hat zaghaft, aber freudig reagiert. Als ich eine Woche später zu Besuch kam, saß sie frisch geduscht am Tisch und hat zu mir gesagt: ›Ist schön hier, nicht?‹ Da bin ich erst einmal vor die Tür und habe geweint.« Verena Keller* vom ambulanten Pflegedienst recke:mobil erinnert sich an den Einzug von Daniela Reinharts Mutter. Das Pflegeteam habe gewusst, dass sie durch aggressives Verhalten aufgefallen sei. »Wir waren dann aber überrascht, weil es doch sehr harmonisch verlief.« Offenbar wirkte sich die Atmosphäre in der WG positiv auf Daniela Reinharts Mutter aus. »Hier hat sich jemand Zeit für sie genommen, sie hat die Zuwendung gespürt und das Gefühl, hier passiert mir nichts«, beschreibt es ihre Tochter.

* Name auf Wunsch geändert.

Dieses Vertrauen hat aber wohl auch dazu geführt, dass die neue Bewohnerin nach einigen Tagen einer Betreuerin etwas Furchtbares aus ihrer Kindheit erzählte. Dass sie in den Wirren ihrer Kindheit Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden sei. Unter der Dusche. Verena Keller erinnert sich an diesen Moment: »Die Kollegen haben mir berichtet, dass sich Frau Reinharts Mutter geöffnet hat, dass es dann aber auch plötzlich wieder Probleme mit der Körperhygiene gab.« Die Mitarbeitenden schienen erneut vor einem unlösbaren Problem zu stehen. »In dieser Situation waren wir alle überfordert in der neuen WG«, gesteht die Pflegerin. Nach Beratungen mit ihrem Team und einem Experten aus dem Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster stand für alle fest: »Wir brauchen einen Profi, der uns an die Hand nimmt und uns wieder handlungsfähig macht.«

Diesen Profi fand Verena Keller im Kompetenzzentrum Demenz in Person von Silke Steinke, Diplom- Pädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. »Sie hat das spontan möglich gemacht«, freut sich Verena Keller. Zunächst führte Silke Steinke eine zweieinhalbstündige Schulung für zehn Mitarbeitende aus Pflege und Alltagsbegleitung, die mit der WG Heimathafen zu tun haben, durch. 

»An einem Strang ziehen« - Silke Steinke begleitete die Mitarbeitenden bei der Betreuung

Welche Wirkung erlittene Traumata auf Menschen mit Demenz haben können, weiß Silke Steinke vom Kompetenzzentrum Demenz Schleswig-Holstein. Sie hat die Mitarbeitenden im Graf Recke Quartier Neumünster bei der Begleitung von Daniela Reinharts Mutter beraten. Es geht vor allem darum, dass Druck von den Pfelegkräften genommen wird. 

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»Frau Steinke hat uns viele Tipps an die Hand gegeben«, berichtet Verena Keller weiter. »Das war der Schlüssel für unser Team, uns das zuzutrauen.« Das Team könne jetzt noch besser einschätzen, wann Körperpflege machbar sei oder auch nicht: »Wir finden zunehmend Wege, um ein für beide Seiten ausreichend stabiles Gefühl von Sicherheit zu schaffen.« Wenn Daniela Reinhart heute in die WG Heimathafen kommt, dann gibt es Tage, sagt sie, an denen ihre Mutter geduscht und zufrieden am Tisch sitze. Aber auch jene, an denen das nicht so ist. »Da sehe ich – oh, Körperpflege ist wohl erst morgen wieder dran. Aber ich weiß: Es ist so gut, wie es sein kann in ihrer Situation.«

Das zurückliegende Jahr sei organisatorisch wie auch emotional eine Riesen-Herausforderung gewesen, sagt Daniela Reinhart. »In ihren aggressiven Phasen hat meine Mutter mich beschimpft, gesagt, sie habe mich nie geliebt. Ich konnte das vom Kopf her einordnen, aber nicht vom Herzen.« Jetzt sei ihr eine riesige Last von den Schultern genommen worden. »Ich kann die Pflege den Profis überlassen und meine Mutter nun empathisch auf ihrem letzten Weg begleiten.«

Weitere Impressionen aus der WG Heimathafen:

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