Marmelade und andere Rituale
Immer am letzten Samstag vor dem ersten Advent findet bei der Jugendhilfe Grünau in Bad Salzuflen der Adventsbasar statt. Es ist ein fester Termin im Jahresablauf der Einrichtung, zu dem alle etwas beisteuern: Marmelade, Plätzchen, Gestecke. Wie wichtig solche Rituale sind, auch die kleinen im Alltag, weiß Sozialpädagogin Lida Meier. Sie geben den Kindern und Jugendlichen „die Sicherheit, die sie in der Vergangenheit in der Regel nicht erlebt haben“, sagt sie. Doch auch die Erwachsenen profitieren.
Der Samstag vor Totensonntag, eine Woche vor dem 1. Advent, ist für die Jugendhilfe Grünau ein besonderer Tag. Auf diesen fiebern praktisch alle hin. „Die meisten unserer Kinder wissen gar nicht, um was es sich beim Totensonntag handelt“, berichtet Lida Meier amüsiert. „Dass am Tag davor unser Basar stattfindet, das aber wissen sie genau.“ Niemand wolle an diesem Tag fehlen. Es ist ein stadtbekanntes Ereignis mit langem Vorlauf, zu dem alle etwas beitragen; darüber hinaus ein wiederkehrendes Ritual – und deshalb gerade für die jungen Grünauer so bedeutend, wie sie sagt.
500 Gläser Marmelade
Und Lida Meier muss es wissen: Die Sozialpädagogin arbeitet seit mittlerweile 37 Jahren in der Einrichtung in Bad Salzuflen, die in diesem Jahr ihr 175-jähriges Bestehen feiert. Schon das Vorpraktikum hat sie einst in Grünau absolviert, war auch während ihrer Ausbildung zur Erzieherin und dem anschließenden Studium stets als Mitarbeiterin im Gruppendienst im Einsatz. Mittlerweile ist sie seit 22 Jahren Teil des Teams der Spatzen. In der Therapie-Intensivgruppe leben aktuell vier Jungen und zwei Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren – und sie alle haben sich beim jüngsten Adventsbasar mit eingebracht. Genau wie die anderen Gruppen, so wie jedes Jahr.
„Legendär sind unsere Marmeladen“, verrät Lida Meier. Zwei Kolleginnen, die eigentlich im Ruhestand seien, ließen es sich nicht nehmen, diese weiterhin gemeinsam mit den Kindern zu kochen. 25 Sorten, von Apfel über Johannisbeere bis Pflaume, waren im Angebot, verteilt auf rund 500 Gläser – und fanden wie gewohnt reißenden Absatz. Genau wie die Plätzchen, die man gebacken habe. Auf hundert Kilogramm schätzt Meier die Ausbeute, beigesteuert aus allen Wohngruppen, der Großteil aber von den Spatzen. Es waren laut der Erzieherin 40 verschiedene Rezepte, von einfachen Ausstechern über raffinierte Muffins bis hin zu stilvollen Hexenhäuschen. „Da ist für jeden was dabei, und alle helfen mit.“
Das ist unsere fünfte Jahreszeit, wie im Rheinland der Karneval
Dass der Erlös den Kindern und Jugendlichen der Einrichtung der Graf Recke Pädagogik gGmbH zugutekommt, vor allem für deren Ferienfreizeiten, ist ein schöner Aspekt, aber nicht der wichtigste. Es ist das verbindende Erlebnis selbst. „Das ist unsere fünfte Jahreszeit, wie im Rheinland der Karneval“, meint Lida Meier mit einem Schmunzeln. Sie selbst hatte wie immer Weihnachtsgestecke und -kränze gefertigt, das sei traditionell der Job der Erwachsenen, sagt sie. „Da freue ich mich jedes Jahr drauf.“ Und so ist der Adventsbasar auch für die Betreuungskräfte nicht mehr wegzudenken. Auch Ehemalige, die früher in Grünau gelebt haben, kämen immer wieder gerne vorbei.
recke:in 1/2024 zum Thema
Unser Unternehmensmagazin recke:in beschäftigt sich in der jüngsten Ausgabe mit dem Jubiläum der Jugendhilfe Grünau. Das ganze Heft zum 175-jährigen Bestehen der Einrichtung der Graf Recke Pädagogik gGmbH in Bad Salzuflen können Sie hier online lesen:
Sie schätzen die Bräuche
Diese erinnern sich meist gerne an ihre Zeit in Grünau, das weiß Lida Meier aus Gesprächen bei den Ehemaligentreffen, die ebenfalls verlässlich alle fünf Jahre stattfinden. Wenn nicht gerade eine Pandemie das vereitelt. Die Kinder und Jugendlichen schätzten die in Bad Salzuflen gepflegten Bräuche, so ihre Erfahrung. Dazu zählt etwa der jährliche, gemeinsame Brunch vor den Sommerferien, an dem alle Jugendlichen, die ihren Schulabschluss geschafft haben, mit einem kleinen Präsent bedacht werden. Dies eröffnet laut Einrichtungsleiterin Martina Wagner zugleich die Chance, sich von all denjenigen zu verabschieden, die Grünau im Sommer verlassen. „Und zum Buffet steuern alle Gruppen etwas bei“, freut sie sich.
Und auch der Kulturabend, der gemeinsam von den Kindern, Jugendlichen und Mitarbeitenden gestaltet wird, gehört zu den festen, immer wiederkehrenden Veranstaltungen in Bad Salzuflen – mit Musik von der Grünau-Band beispielsweise, mit Poetry-Slam oder Vorführungen der Medien-AG. Hinzu kommen laut Lida Meier gelebte Traditionen anlässlich der Feiertage: Sie nennt den feierlichen Weihnachtsgottesdienst, zu dem man vom Gelände aus zu Fuß gehen könne, oder ein schönes Osterfrühstück. Das hat durchaus Gewicht: „Das kennt so nicht jedes Kind“, erläutert die Sozialpädagogin.
Doch es gehe nicht nur um die großen Feste, es seien auch die kleinen, alltäglichen Rituale, sagt sie. „Dass in der Gruppe immer jemand da ist, der beispielsweise dafür sorgt, dass ich frühstücken kann und für die Schule rechtzeitig das Haus verlasse.“ Was für Außenstehende laut Lida Meier profan klingen mag, gebe den jungen Menschen „die Sicherheit, die sie in der Vergangenheit in der Regel nicht erlebt haben“. Und auch die Teams profitierten von festen Abläufen.
Und so wird es bleiben
„Das sind wir. Das ist richtig. Und so wird es bleiben“, hat die US-amerikanische Psychologin Barbara Fiese die Botschaft der Rituale einmal in drei kurzen Sätzen zusammengefasst. Lida Meier kann das so unterschreiben. Für sich ganz persönlich hat sie ebenfalls ein festes Ritual: Auf der Fahrt von der Arbeit nach Hause denkt sie noch über das nach, was gerade bei den Spatzen ansteht, was erledigt, was besprochen werden sollte. „Aber mit dem Abschließen meines Autos ist auch meine Arbeit beendet“, sagt sie. Ihre Botschaft an sich selbst: „Es ist wichtig, auch auf mich selbst zu achten.“