Nächstes Jahr im Ahorn-Karree
Weihnachten im Haus Ahorn im Dorotheenviertel Hilden. Eigentlich sollten die Bewohnerinnen und Bewohner mit schwerer Demenz schon im Frühsommer ins Ahorn-Karree umgezogen sein, aber ein Wasserschaden hat den Zeitplan über den Haufen geworfen. Wann der Umzug genau stattfinden kann, ist noch nicht sicher, aber die Vorweihnachtsfreude im alten Haus Ahorn ist wie immer groß, Corona zum Trotz: Bewohner und Mitarbeitende backen gemeinsam Plätzchen, dekorieren und hören adventliche Lieder. Die Erinnerungen an Adventstraditionen und Weihnachtsmusik sind auch bei Menschen mit schwerer Demenz fest verankert und nach wie vor emotional stark belegt. Schon jetzt im Haus Ahorn, bald in den neuen Hausgemeinschaften im Ahorn-Karree. Erinnerungen sind wichtig, um den Menschen mit schwerer Demenz auch in ihrer eigenen Welt Sinn, Halt und Freude zu geben.

Wenn Adelheid Reiners ihr Rezeptbuch und Ausstechformen mitbringt, dann ist gemeinsamer Backtag. Aktionen wie diese sind für die Menschen mit schwerer Demenz, die im geschützten Haus Ahorn leben, von großer Bedeutung, betont Adelheid Reiners, seit 37 Jahren Mitarbeiterin im früheren »Altenkrankenheim «. »Gerade in der Weihnachtszeit kommen die Erinnerungen wieder«, sagt sie. »Sobald die Lieder erklingen, und sei es auf CD, sind die Erinnerungen da.« Auch sonst gänzlich desorientierte Menschen verknüpfen Weihnachten mit dem, was sie in ihrem langen Leben erlebt, aber auch verloren haben. »Da fließen auch schon mal Tränen«, sagt Adelheid Reiners, die den Sozialtherapeutischen Dienst aller drei Senioreneinrichtungen im Dorotheenviertel Hilden fachlich leitet. »Viele erinnern sich an gemeinsame Feste mit ihren Liebsten. Und alles, was mit Emotionen verbunden ist, können Menschen mit Demenz auch schnell wieder zuordnen.«
Das gemeinsame Dekorieren in der Adventszeit gehört zum festen Ritual. »Wir beziehen die Bewohner ein, wir fragen sie, was sie sich wünschen«, berichtet Adelheid Reiners. Manche Bewohner haben auch noch eigene Dekoration im Schrank. Fester Bestandteil der Adventszeit: Aktionen wie das Plätzchenbacken. Es findet in jedem Wohnbereich statt, und das mehrmals bis Weihnachten. Dazu gibt es Nachmittage mit alkoholfreiem Punsch, der zusammen zubereitet wird. Gemeinschaft ist wichtig, gerade jetzt in Coronazeiten. »Wir werden in diesem Jahr keine großen Feiern mit Angehörigen haben«, bedauert Adelheid Reiners. Natürlich können die Angehörigen zu Besuch kommen, aber nur aufs Zimmer, und auch dort könne man es feierlich einrichten. Die gemeinsamen großen Feiern fallen dieses Jahr zwangsläufig anders aus. Bewohner und Mitarbeitende feiern zusammen. Heiligabend soll es einen Gottesdienst mit dem Theologischen Vorstand und einen Brunch geben. Aber anders als sonst: ohne Angehörige. Mit Abstand.

Adelheid Reiners
leitet den Sozialtherapeutischen Dienst im Dorotheenviertel Hilden.

»Das blöde Virus«
Die Einschränkungen durch Corona seien natürlich schmerzlich und vielen Bewohnern kaum zu vermitteln. »Sie freuen sich riesig, wenn Besuch kommt«, berichtet Adelheid Reiners. Sie verstünden das oft nicht, warum der Sohn jetzt eine Maske trägt, manchen macht sie Angst, weil sie den Besucher oder die Mitarbeiterin nicht mehr erkennen. »Aber die meisten haben sich einigermaßen daran gewöhnt«, meint Adelheid Reiners. Manche wüssten aus den Nachrichten, worum es geht. Dann sprechen sie auch darüber, über »das blöde Virus«.
Corona wird vorübergehen. Den Blick in die Zukunft richten, das tun die Menschen mit schwerer Demenz, die bald vom Haus Ahorn ins Ahorn-Karree ziehen sollen, nicht. Wenn sie die neuen Häuser besichtigen, dann freuen sie sich, aber kurz darauf haben sie es wieder vergessen, sagt Adelheid Reiners. Deshalb müssen sie auch nicht traurig sein, dass ein Wasserschaden den Einzug in diesem Jahr verhinderte. Die Mitarbeitenden sind natürlich enttäuscht, haben sich schon sehr auf die neue Arbeitsumgebung gefreut. Jetzt heißt es: Geduld.
Alle Infos zum Leuchtturmprojekt gibt es auf der Homepage des Ahorn-Karrees.
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Die Vorfreude bleibt: »Davon träume ich, seit ich hier arbeite«, sagt Adelheid Reiners, »dass die Bewohner mit Demenz in kleineren Gemeinschaften wohnen können, mit Küche und Wohnzimmer als gemeinsamem Mittelpunkt.« Die Überschaubarkeit mit insgesamt zwölf Bewohnern pro Hausgemeinschaft werde den Menschen mit schwerer Demenz helfen, sich besser zu orientieren, meint die Leiterin des Sozialtherapeutischen Dienstes. »Es gibt auch die, die immer auf Jück sind, die in den Garten laufen und immer unterwegs sind.« Das, so Reiners, ist ja auch gewollt und möglich im großzügigen Garten.

Zweige für den Ofen
Die Hausgemeinschaften sollen Orte des Rückzugs und der Begegnung sein, der Ruhe und der Aktivierung. Nur wer möchte, macht mit, auch Menschen mit schwerer Demenz sind individuell und wollen auch so behandelt werden. Zum Beispiel Brunhilde Klöckner: »Sie hat sich schon immer mit den Blumentöpfen auf der Terrasse beschäftigt oder einmal im Foyer vom Fikus trockene Zweige abgebrochen«, erzählt Adelheid Reiners. »Die hat sie alle sortiert in ihrer Hand gesammelt und mir gegeben: ›Hier, für Sie, das können Sie in den Ofen tun.‹« Dass Brunhilde Klöckner gern mit Pflanzen zu tun hatte, war offensichtlich. Auch das gemeinsame Backen sei für die 85-Jährige ein Highlight: »Als ich sie ansprach, ob sie Lust habe, mit mir zu backen, da war sie Feuer und Flamme. Dann haben wir hier die Sachen aus dem Schrank geholt, das Nudelholz, das Backbuch, und wir haben darüber geredet: Spekulatius, die sind ganz dünn!« Durch ein paar Fragen und gemeinsame Aktivitäten finden die Mitarbeitenden heraus, was Bewohnerinnen wie Brunhilde Klöckner gut können und was sie mögen. »Das ist die Grundlage für die Art und den Zuschnitt unserer Angebote.« Auch Brunhilde Klöckners Sohn konnte etwas beitragen: Sie habe schon früher sehr gerne gebacken. Aber kurz vorm Heimeinzug habe sie sich nicht mehr erinnert: Wie viel Mehl ist schon drin? Was kommt jetzt da rein?
Brunhilde Klöckner, eine von Bewohnerinnen und Bewohnern im Haus Ahorn, eine von 119 Biografien. Geboren 1935 im heutigen Polen. Evangelisch. Aufgewachsen auf einem Hof mit zwei Geschwistern, auch die Oma bei der Familie. Hund, Katzen, Kühe, Hofarbeiten. Hausarbeit ist sie von klein auf gewöhnt. Beruflich als Buchbinderin und Fotolaborantin tätig. Verwitwet seit 1991. Ging gerne spazieren oder auch wandern, machte Fahrradtouren und reiste gern. Legt Wert auf Ordnung, ist kontaktfreudig. Auf Krankheit, Leid und Tod reagiert sie mit einem schlichten: »Das Leben geht weiter!« Oder sagt: »So muss das eben sein«, wenn beim Backen mal ein Plätzchen misslingt.
So muss das eben sein, das Leben geht weiter.

Die Menschen im Haus Ahorn sind Menschen mit einem langen Leben, einer reichen Biografie. Man vergisst es leicht, wenn man sie heute sieht. Manche tun komische Dinge, viele scheinen oft nur dahinzudämmern. Gerade deshalb ist es Adelheid Reiners so wichtig, sie immer wieder zu aktivieren. »Das ist es ja auch, wofür die Hausgemeinschaften im Ahorn- Karree die große Chance bieten«, sagt sie: »Dass man die Bewohner einbezieht, und sei es nur, dass man sagen kann: Können Sie mir bitte mal die Tasse reichen?« Das sei so wichtig, und was, so fragt Reiners, wäre denn, »wenn ich an einem ganz kahlen Tisch sitze, keine Ansprechperson habe – wie würde ich mich denn da fühlen? « Ihr sei wichtig, dass der Bewohner etwas sehen kann, etwas vor sich hat, das er anfassen, fühlen kann. Das könne eine Puppe sein oder ein Kuschelteddy. Als fachliche Leitung sei es ihr wichtig, das nicht zu überfrachten, »wir sind ja kein Kindergarten «, aber andererseits: »Wenn wir ehrlich sind, haben wir beim Fernsehen doch auch schon mal gerne ein Kissen im Arm!« Es gehe auch bei Menschen mit schwerer Demenz darum, ihrem Leben weiterhin Sinn zu geben. »Damit sie nicht in Haltlosigkeit oder tiefe Trauer fallen, sind wir für sie da und fördern das, was sie früher gern gemacht haben oder heute mit Freude tun.« Was das ist, das bestimmen die Menschen selbst. Eine Bewohnerin habe auch einfach mal eine halbe Stunde im Büro bei ihr gesessen, ihr nur zugeschaut, ab und an freundlich zugenickt, rausgeguckt. »Ich sah da keinen Anlass, sie rauszubitten. Sie ruhte sehr entspannt in sich. Auch das sind diese kleinen, sinngebenden Momente.«
Eine große Familie
In den neuen Hausgemeinschaften im Ahorn-Karree werden Präsenzkräfte arbeiten, eigens geschulte Mitarbeitende, bei denen die Trennung zwischen Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft aufgehoben ist, weil sie Allrounder sind und immer gerade das tun, was in der Situation gefordert ist. Sie sind flexibel und präsent, aber: Auch eine Präsenzkraft kann nicht immer präsent sein. Die Bewohner müssten sich auch schon mal selbst beschäftigen, sagt Adelheid Reiners und erzählt von den kleinen »Inseln«, die es im Haus Ahorn gibt und auch in den Hausgemeinschaften geben wird. Darauf liegen verschiedenste Dinge, von denen sich die Bewohner jederzeit etwas nehmen können, es anfassen, halten oder herumräumen können. »Wenn ich ein paar Schallplatten aufs Klavier stelle und die sind zwei Tage später alle weggeräumt, dann weiß ich: Das hat einen Aufforderungscharakter gehabt und die Bewohnerin hat sich damit beschäftigt«, sagt Adelheid Reiners. Natürlich werde man immer wieder aufräumen müssen, oder einfach aushalten, dass Dinge verschwinden, etwas kaputtgeht oder jemand beim Backen die Butter isst, das Eiweiß trinkt, weil es ja in einer Tasse ist, oder beim Essen ungeniert in den Obstsalat greift. »Das sehen wir hier etwas lockerer«, lacht Adelheid Reiners, »das ist wie in einer großen Familie«.
Die Hausgemeinschaften sollen dieses Familiengefühl noch stärken. Adelheid Reiners hat schon über 30 Jahre davon geträumt. Weihnachten 2020 wird noch im Haus Ahorn stattfinden, aber nicht nur die Leiterin des Sozialtherapeutischen Dienstes hofft: nächstes Jahr im Ahorn-Karree!