Durch die Krise
Hier berichtet eine Frau, die durch ein tiefes Tal gegangen ist, bis sie Hilfe gefunden und angenommen hat. Heute hilft sie anderen. Wir haben sie gebeten, uns zu erzählen, wie sie in die Krise geraten ist – und wieder herausfand. Ihrem Wunsch, anonym zu bleiben, haben wir selbstverständlich entsprochen.
2016 ist mein Mann gestorben, sechs Wochen nach der Diagnose Krebs. Wir waren 36 Jahre zusammen. Ich hatte Existenzängste ohne Ende. Das macht halt was mit einem, wenn da so ein Fels in der Brandung wegbricht. Es war eine sehr gute, liebevolle Ehe. Wir hatten noch so viele Zukunftspläne. Mein Körper hatte schon in der schlimmen Zeit vor seinem Tod mit chronischen Schmerzen und schweren Depressionen reagiert. Ich habe vergessen, zu essen, extrem viel Sport gemacht, war nur noch ein Strich in der Landschaft. Ich habe nach dem Tod meines Mannes noch drei Jahre funktioniert, mehr oder weniger. Ich wollte nicht nachdenken, hatte unglaubliche, existenzielle Angst vorm Absturz. Das hat nach außen noch eine ganze Weile funktioniert, aber mir auch die letzten Kräfte geraubt. Ich wollte mein Herz ausschütten, aber niemanden damit belasten. Das war die Beschützerin in mir.

Die körperlichen Schmerzen habe ich gedeckelt mit Ibuprofen. 2016 habe ich eine Psychotherapie angefangen. In eine Klinik wollte ich nicht, schon gar nicht stationär. Ich war immer stark, habe mein Leben lang gearbeitet. Für mich war das anfangs körperlich, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. Und dann hatte ich auch eine positive, na ja, das kann man nicht als Krise bezeichnen, aber für mich war es eine: Ich habe eine Frau kennengelernt, deren Partnerin 2016 gestorben ist. Beide Todesfälle sind nur vier Wochen auseinandergewesen. Diese Frau habe ich kennen und schätzen und schließlich lieben gelernt. Und damit hatte ich ein Problem. Ich war 36 Jahre mit meinem Mann zusammen. Meine Freundin war das Beste, was mir passieren konnte, bei ihr kann ich mich fallen lassen. Aber das Outing war sehr, sehr schwer für mich.
Ich habe als Praxismanagerin in einer Zahnarztpraxis gearbeitet. Ich wusste, wie meine Chefin dazu steht: lesbisch und psychisch krank, sie hätte das nicht akzeptiert. Da konnte ich mich nicht öffnen. Zugleich konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ich machte Fehler, musste alles zwei-, dreimal bearbeiten. Am Wochenende holte ich nach, was ich nicht geschafft hatte. 2019 hatte ich meine erste Krankschreibung und bin da nicht mehr rausgekommen. Und dann habe ich die Kündigung gekriegt, per Einschreiben mit Rückschein, ohne ein Wort vorher. Nach 20 Jahren. Weil ich krank war.
Eine Chance zum Neustart
Im Nachhinein bin ich froh. Die Kündigung war der letzte Tritt, als ich schon am Boden lag. Danach bin ich zusammengebrochen. Bis zur Kündigung dachte ich, ich berappel mich, zieh mich am eigenen Schopf heraus. Die Kündigung war eine Chance zum Neustart. Die erste Reha hätte ich mir aber sparen können, da wurde rein orthopädisch behandelt. Dabei hatte ich schon bei der Beantragung erklärt, dass die körperlichen Probleme und die psychischen gleichwertig seien. Aber ich hatte ganz große Angst davor, in eine Psychiatrie zu gehen. Das war für mich wie aufgeben. Meine Psychotherapeutin und meine Ärzte haben mir sehr dazu geraten. Ich wollte auf keinen Fall stationär behandelt werden. Die Tagesklinik war ein Kompromiss.
Ich hatte ganz große Angst davor, in eine Psychiatrie zu gehen.
Wie ein Brett vorm Kopf
Ich war am Ende. Ich habe eingesehen, ich brauche Profis. Sie haben mir dort Zeit gelassen, acht Monate. Nach der Tagesklinik war ich trotzdem überfordert. Mein Kopf hat nicht funktioniert, auch wegen der Psychopharmaka. Es war wie ein Brett vorm Kopf. Von der Tagesklinik hat mich die Sozialarbeiterin persönlich zu Frau Henne (Anm. d. Red.: Mitarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Zentrum SPZ der Graf Recke Stiftung) gebracht. Frau Henne hat mich super unterstützt. Ich war überfordert mit den ganzen Papieren. Ich konnte keine Anträge ausfüllen. Was mal mein Job war, konnte ich nicht mehr. Wir haben dann angefangen, zusammen Telefonate zu führen, auf laut gestellt, aber anfangs habe ich kein Wort gesagt. Ich habe an den offenen Angeboten im SPZ teilgenommen, und dann hat Frau Henne mir das Angebot gemacht, hier einen ehrenamtlichen Kochkurs zu geben. Sie hat mich gefordert! Ich habe das dankend angenommen. Ich mache den Kochkurs bis heute mit meiner Freundin. Mir war wichtig, auch etwas zurückzugeben, das habe ich von Anfang an gesagt.
33 Prozent - Ein Plädoyer für mehr Offenheit und Solidarität von Reimund Weidinger
Reimund Weidinger, Leiter der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik, weiß, dass psychische Erkrankungen auch heute noch tabuisiert und stigmatisiert werden. Dabei sind Betroffene häufig ganz nah in unserem eigenen Umfeld. Wie man diesen Menschen begegnen sollte, darauf macht er in seinem Beitrag aufmerksam.
Dieses Jahr habe ich mit der Fortbildung zur Ex-In Genesungsbegleiterin begonnen. An drei Tagen bin ich dazu in Neuss. Im ersten halben Jahr lernen Sie ganz viel über sich selbst, im zweiten Teil, wie man anderen zur Seite steht. Wenn man so eine psychische Erkrankung selbst erlebt hat, sieht man manche Dinge anders. Seit Oktober bin ich im SPZ angestellt. Ich mache weiterhin den Kochkurs und gebe noch einen Aqua-Kurs, gehe mit einer Gruppe Frauen schwimmen. Da werden Gespräche geführt, wird Mut gemacht, Dinge wieder anzugehen. So habe ich es ja auch gemacht. Kleine Schritte, auch Rückschritte akzeptieren.
Kleine Schritte, auch Rückschritte akzeptieren.
Angebote, keinen Druck
Frau Henne hat ein unglaubliches Händchen, keinen Druck zu machen. Das möchte ich von ihr noch lernen: Angebote, aber keinen Druck. Das war für mich lebensrettend. Ich habe mir früher den meisten Druck selbst gemacht. Wenn man das alte Muster fährt, und ich bin so erzogen worden, dann kommt man da schlecht raus. Heute mache ich langsamer, weil mein Körper das sonst nicht verkraftet. Ich habe hier sehr viel gelernt. Wenn Sie immer die Starke sind und allen geholfen haben, müssen Sie erst mal lernen, Hilfe anzunehmen, zu vertrauen, dass das funktioniert. Und als ich mich auch mit meinen Depressionen geöffnet habe, war ich sehr erstaunt, wer alles schon was hatte. Da hat sich mein Bild noch einmal gewandelt.