Ein Marathon, kein Kurzstreckenlauf

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Kommt ein Kind mit Behinderung zur Welt, ist das für Eltern in der Regel ein Schock. Stefanie Daniel kennt das, auch sie war nach der viel zu frühen Geburt ihrer Zwillinge zunächst „wütend, traurig, hilflos“. Doch die Diplom-Psychologin hat seitdem viel gelernt – und ihre Lebensfreude wiedergefunden. Mit betroffenen Eltern gründete sie den Verein „Süße Zitronen e.V.“, jetzt geben sie gemeinsam ihre Erfahrungen und so manchen Tipp weiter. Es geht um Hilfe bei Anträgen genauso wie um Begegnung und das Schaffen von Ressourcen. 

Was es bedeutet, das Familienleben mit einem Kind mit Behinderung zu managen, weiß Stefanie Daniel nur zu gut – sie und ihr Mann Jan haben zwei davon. Als ihre Zwillinge vor gut 13 Jahren viel zu früh zur Welt kamen, brach nicht allein ein Lebensentwurf zusammen, der Alltag mit zwei Kindern mit Handicap brachte die Eltern zudem an ihre Belastungsgrenzen – und nicht selten darüber hinaus. Was sie sich damals gewünscht hätte, wären Menschen, die als Wegeweiser durch den Ärzte-, Therapie- und Bürokratie-Dschungel fungiert hätten, sagt Stefanie Daniel. Ihre Antwort: Gemeinsam mit anderen Eltern gründete sie die „Süßen Zitronen“, einen Kölner Verein, der seit 2019 Familien in ähnlicher Situation organisatorisch unterstützt – mit allen eigenen Erfahrung.

Dass ihr Sohn Tom seit Jahren von Inklusionskräften der Graf Recke Stiftung begleitet wird, zunächst in der Kita, jetzt in der Förderschule, ist für die Daniels fraglos eine Entlastung. Zunächst sei der schwerstmehrfachbehinderte Junge von einer Frau betreut worden, seit zwei Jahren übernehme diese Aufgabe ein junger Mann. „Der hat sich toll auf Tom eingestellt und macht eine super Arbeit“, freut sich die 44-Jährige. Die eigentliche Herausforderung aber beginnt nach Schulschluss. Ihr Sohn sitze im Rollstuhl, werde über eine Sonde ernährt und spreche nur einzelne Wörter. Seit 2015 bekomme man daher auch im privaten Umfeld Unterstützung. „Alleine könnte ich meinen Sohn nicht mehr versorgen.“

Das hatte sich das Paar ganz anders vorgestellt, als Stefanie Daniel nach einer Kinderwunschbehandlung 2012 tatsächlich schwanger geworden war. Zunächst lief alles normal, erinnert sie sich. Völlig überraschend aber kamen die erwarteten Zwillinge in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt und damit Monate zu früh, was Folgen hatte: „Beide bekamen am dritten Lebenstag Hirnblutungen vierten Grades. Keiner kann sagen, was danach kommt“, sagt sie. Ihre Kinder jedenfalls hätten sich völlig unterschiedlich entwickelt. Tom traf es besonders heftig. Doch auch ihre Tochter Lara sei geistig eingeschränkt, besuche die Förderschule und leide unter einer halbseitigen Spastik, berichtet Daniel. „Aber sie kann gehen, sich selbstständig anziehen und alleine essen.“ Eine Selbstverständlichkeit ist das nicht.

 

Das Ziel: Informationen bündeln

Sechs Monate lang haben die Eltern nach der Geburt der Frühchen praktisch durchgehend in der Uniklinik verbracht, von morgens bis abends. „Man ist komplett aus seinem Leben gerissen und fragt sich, wie das alles weitergehen soll“, verdeutlicht Stefanie Daniel. „Man ist wütend, traurig, hilflos, weil das erträumte Leben so nicht möglich sein wird.“ Und man fühle sich allein, „während andere ein völlig anderes Leben führen“. Aber eben nicht alle, wie die junge Mutter 2016 durch den Besuch einer Selbsthilfegruppe erfahren durfte. Und was letztendlich zur Gründung der „Süßen Zitronen“ führte.

„Wir haben damals festgestellt, dass man viele Infos nur zufällig bekommt, im Wartezimmer zum Beispiel oder durch Gespräche mit anderen Eltern“, sagt sie. Und daher sollte eine Beratungsstelle aufgebaut werden, um alle wichtigen Informationen zu bündeln, von Möglichkeiten zur Frühforderung bis zum therapeutischen Reiten. Das sei wichtig, da es gerade am Anfang eine Menge Zeit und Kraft erfordere, sich in der neuen, emotional aufgewühlten Lebenssituation zurechtzufinden. Der Alltag werde „von Terminen bei diversen Therapeuten und Ärzten, sowie von zeit- und kräftezehrender Bürokratie durch Versicherungen und Ämter bestimmt“, wie es auf der Homepage des Vereins heißt.

Durch dieses Dickicht lotsen seit 2019 nun vier Spezialistinnen betroffene Eltern aus Köln und Umgebung. Hinzu kommt die psychosoziale Beratung.  „Wir haben alle Feld- und Fachkompetenz, sind Eltern von Kindern mit Behinderung, aber zugleich Pädagoginnen und Psychologinnen“, betont Stefanie Daniel. Dass sie nun als Diplom-Pädagogin Ansprechpartnerin im Büro der „Süßen Zitronen“ in Köln-Raderthal sein kann, wurde durch eine Anschubfinanzierung durch die Aktion Mensch, die RheinEnergie- sowie die Kämpgen-Stiftung ermöglicht. Trotz Anerkennung als Träger der freien Jugendhilfe sei es jedoch von Jahr zu Jahr schwieriger, genügend Spender und Unterstützer zu gewinnen, sagt sie.

Lernen, Hilfe anzunehmen

Dass hier Betroffene beraten, sei „schon eine Alleinstellung“, sagt Daniel. „Dadurch öffnen sich die Klientinnen und Klienten leichter.“ Man arbeite auch daran, dass die  Eltern Ressourcen für sich selbst schaffen – und dass auch Geschwisterkinder, „die ja oft hintenanstehen“, nicht zu kurz kommen. Regelmäßig bietet der Verein daher Workshops speziell für diese an, aktuell etwa ein Adventskranzbasteln. Wichtig sei zudem, dass die Eltern sich um ihre Partnerschaft kümmern und lernen, Hilfe anzunehmen. „Weil sie realisieren müssen, dass es nicht nur eine Phase ist. Es ist ein Marathon, kein Kurzstreckenlauf.“
 

Mehr als 400 Eltern hat der Verein im Laufe der Jahre bereits beraten. „Und wir bekommen gutes Feedback, weil sie sich verstanden fühlen“, sagt die Mitgründerin, die nach eigenem Bekunden aus jedem Gespräch etwas für sich selbst mitnimmt. Es sei in Ordnung, auch mal zu schimpfen und verzweifelt zu sein, sie nimmt sich dabei selbst nicht aus. „Ich kann beispielsweise meine Kinder ja nie alleine lassen. Da ist schon die Gefahr, dass man vereinsamt, weil es sich auf sämtliche Lebensbereiche auswirkt.“ Von der fehlenden Ferienbetreuung an Förderschulen ganz zu schweigen.

Ich kann meine Kinder nie alleine lassen. Da ist schon die Gefahr, dass man vereinsamt.

Stefanie Daniel

Umso wichtiger sei es, Eltern nicht die Defizite aufzuzeigen, sondern das, was sie alles schon gut machen. Das praktiziere man bei den „Süßen Zitronen“. Hinzu kommen laut Stefanie Daniel die Begegnungen, beim Sommerfest etwa oder bei Abenden nur für Eltern. „Dann sehen wir glückliche Menschen unter ihresgleichen. Sie sind dann nicht der Exot und in ihrem Erleben nicht allein.“ Natürlich gebe es auch für sie nach wie vor Momente, in denen sie hadere, bekennt die 44-Jährige. „Aber: Ich sitze hier und habe viel Freude am Leben. Und es erfüllt mich, durch meine Arbeit anderen Familien helfen zu können.“   

Süße Zitronen e.V.

Weitere Informationen über den Verein und die Unterstützung für Familien mit Handicap gibt es hier: 

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