Endlich Vollzeitpapa

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Marcus Neumann kämpfte jahrelang vergeblich um die Rückkehr seines Sohnes, der vom Jugendamt in einer Wohngruppe im Bergischen Land untergebracht worden war. Die Streitigkeiten zwischen den getrennten Eltern hatten den Jungen krank gemacht. Nach dem Wechsel von Robin in eine Fünf-Tage-Gruppe der Graf Recke Stiftung aber ging alles ganz schnell. Mittels intensiver Familienarbeit entspannte sich die Situation, ein Jahr später bereits zog das Kind erneut um: zum Papa. Nun sind die beiden ein Team, das sich mit Unterstützung durch Familientherapeutin Simone Kern immer mehr findet.

Marcus und Robin Neumann wirken an diesem Nachmittag wie ein eingespieltes Team. Meist müssen sich Vater und Sohn nur anschauen und wissen über die Gefühlslage des anderen offenbar Bescheid. Der Zwölfjährige macht im Beisein von Fremden ohnehin nicht viele Worte, was sein Vater mit lebhaften Erzählungen ausgleicht. Es wird überhaupt viel gelacht, und für den Fotografen albert das Duo später mit Hingabe herum. Das Besondere an der Konstellation: Um ein solches Team zu werden, hatten die beiden keine zwölf Jahre Zeit, sondern im Prinzip nur eines. Erst seit Herbst 2023 lebt Robin wieder bei seinem Vater, der Weg bis dahin war lang und beschwerlich – mit einem kleinen Wunder ganz am Ende.

Denn ein Jahr zuvor, im Herbst 2022, war Robin in die damalige Fünf-Tage-Gruppe Ratingen der Graf Recke Stiftung eingezogen, nur die Wochenenden und den Großteil seiner Ferien verbrachte der Junge wechselweise bei Mutter oder Vater. Dass sich daran so schnell etwas ändern würde, daran glaubte Marcus Neumann zu jener Zeit nicht. Zu viel hatte er die Jahre davor erlebt. »Ich fand es gut, dass Robin näher bei mir war, hatte aber aufgrund widriger Erfahrungen mit dem Familienrechtssystem wenig Hoffnung, dass der Junge bald nach Hause kommt«, erinnert er sich. Der Grund: »Ich habe damals niemandem mehr vertraut.« Wer dies verstehen will, muss die Geschichte von Robin und seiner Familie kennen.

Das Drama begann 2013, als Marcus Neumann gegenüber seiner damaligen Frau den Trennungswunsch äußerte. »Ich wollte, dass wir friedlich auseinandergehen, ich bin selbst ein Scheidungskind und weiß, dass das funktionieren kann«, sagt der 47-Jährige. »Doch schon zwei Tage später kam der erste Brief vom Gericht.« Es begann »ein jahrelanger Rosenkrieg«, wie Neumann es nennt, auch um das Umgangsrecht mit dem gemeinsamen Kind. Das verabredete Wechselmodell 50 : 50 war ihm zufolge nur schwer umsetzbar. Da er zu dieser Zeit aus gesundheitlichen Gründen nicht erwerbstätig war, habe er selbst keine Unterstützung für seinen Sohn bekommen, erzählt er. »Ich habe von meinem knappen Geld zum Teil Kleider oder ein neues Spielzeug für ihn gekauft.« Das Einzige, was ihm zugestanden worden sei, war eine entsprechende Wohnung mit eigenem Zimmer für Robin. 

Er scheiterte am System

Und so verbrachte der Junge die überwiegende Zeit bei seiner Mutter. Schon damals hätte der Vater sein Kind gern zu sich genommen, »weil es bei der Mutter nicht so war, wie ich mir das vorgestellt habe«, meint er. Deutlicher will er nicht werden. Aber über die Jahre sei sein Wunsch von den Behörden immer wieder abgelehnt worden, aus fadenscheinigen Gründen, wie er meint. »Denen war einmal tatsächlich meine Wohnung zu ordentlich. Ob sich das Kind hier überhaupt bewegen dürfe?« Marcus Neumann schüttelt nur den Kopf. »Es kann doch nicht sein, dass ein Vater sich um sein Kind kümmern will und das System lässt ihn nicht.«

Doch der Tag des echten Einschnitts sollte erst noch kommen: Es war im Januar 2020, als Robin erkrankte und zur Diagnose in eine Klinik im Bergischen Land eingeliefert wurde. Es habe sich herausgestellt, dass das Leiden psychosomatisch bedingt sei, »auch wegen der Streitigkeiten der Eltern«, sagt Marcus Neumann. Eigentlich, erzählt er, hätte in der Zeit der Diagnostik Familienarbeit stattfinden sollen. »Aber dann kam Corona, kamen die Kontaktsperren. Wir haben fast nur noch übers iPad kommuniziert.« Doch sein damals achtjähriger Sohn kehrte auch nach drei Monaten Klinikaufenthalt nicht heim. »Er wollte das selber nicht mehr, hatte Angst, vor allem vor dem neuen Partner meiner Ex-Frau«, so berichtet es der Vater. Robin selbst hat an diese Zeit kaum eine Erinnerung.

Und so wurde vom Jugendamt entschieden, dass der Junge nach seiner Entlassung zunächst in einer Wohngruppe unterkommt. »Das war gleich nebenan, nur die Straße rüber«, berichtet Robin. »Wir sind Rad gefahren und haben Ausflüge gemacht.« Und obwohl er dort Freunde gefunden hat, empfand er das Leben in der Gruppe »so mittel«, wie er sagt.

Er hat sich geöffnet

Sein Vater hingegen war »zuallererst sehr erleichtert, dass Robin erst mal nicht in den mütterlichen Haushalt zurückkehrt «. Schmerz über die Trennung habe er zunächst weniger empfunden, da Robin sich in dieser Zeit erstmals ihm gegenüber geöffnet habe. »Robin hat sich mir endlich anvertraut, den Fachkräften hat er wenig erzählt.« Was aus Sicht von Marcus Neumann zum Problem wurde: »Ich galt als der böse Ex-Mann. Man hat sich lange Zeit gar nicht die Mühe gemacht, meinen Bedenken nachzugehen.« Mit dem Lebensgefährten der Ex-Frau etwa sei nie ein Gespräch zustande gekommen.

Man hat sich lange Zeit gar nicht die Mühe gemacht, meinen Bedenken nachzugehen.

Marcus Neumann über seine frühere Erfahrungen

Was alle nicht ahnten: Wie lange der Junge noch im Bergischen leben würde, weit weg vom im Rheinland lebenden Vater, den er nur jedes zweite Wochenende besuchen durfte. Später im Wechsel auch wieder seine Mutter. Für diese sei es extrem schwer gewesen, glaubt Marcus Neumann. Und für den bei ihr lebenden Halbbruder von Robin. »Der hat ihn schrecklich vermisst.« Und klar, gelitten habe auch er: »Jeder Tag, an dem das Kind nicht zu Hause ist, ist ein verlorener Tag. Aber ich wollte, dass alles zu einem Ziel führt und nicht umsonst war.«

Und daher waren Marcus Neumann und seine Ex-Frau schließlich bereit, nach zweieinhalb Jahren dem im Rahmen der Hilfeplanung vorgeschlagenen Wechsel von Robin in die Fünf-Tage-Gruppe Ratingen zuzustimmen: »Das war näher und zudem war mehr Umgang vorgesehen«, sagt Neumann. Dies sei in dieser Betreuungsform der entscheidende Punkt, erläutert Dimitra Georgiou, Fachaufsicht im Fachbereich II der Graf Recke Erziehung Bildung. Von Freitag bis Sonntag seien diese Gruppen geschlossen, die Eltern verpflichteten sich zugleich zur verbindlichen Familienarbeit, sagt sie. »Von Anfang an arbeiten wir auf eine Rückführung hin. Es gibt nicht viele Familien, die das so leisten können.«

Den Neumanns traute man das zu. Doch der Vater selbst blieb nach seinen Erfahrungen skeptisch: Im Vorstellungsgespräch habe er einfach alles abgenickt, erinnert sich Dimitra Georgiou. »So nach dem Motto: Lass die mal reden.« Sie schaut hinüber zu ihm. »Ich war so verbohrt, ich dachte wirklich nicht mehr, dass es Menschen gibt, die umsetzen, was sie sagen«, räumt er offen ein. Doch da kannte er das fünfköpfige Team der Fünf-Tage-Gruppe noch nicht. Und auch nicht Simone Kern.

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Alle ernst genommen

Die 48-Jährige ist die Familientherapeutin in der Wohngruppe, die seit ihrem Umzug nach Düsseldorf-Wittlaer unter »Take 5« firmiert. Mit einer halben Stelle kümmert sie sich explizit um den Einbezug der Familien der dort lebenden Kinder, eine Besonderheit. Sie bittet zum Gespräch »in einem wertungsfreien Raum«, wie sie betont. »Ich habe mindestens einmal die Woche persönlichen, direkten Kontakt.« Doch auch der Therapeutin war Marcus Neumann zunächst mit Misstrauen begegnet, wie er zugibt. »Er hat mir den Kampf angesagt«, so drückt es Simone Kern aus und kann heute darüber lachen. Denn tatsächlich sollte sich die Stimmung nicht nur bei Robin, sondern auch bei seinem Vater rasch ändern.

Ganz am Anfang habe er in seinem Frust zwei Aktenordner zum Fall seines Sohnes bei Simone Kern auf den Tisch geknallt. »›Hier haben Sie was zu lesen, ich mag nicht mehr dauernd meine Lebensgeschichte wiederholen.‹ Und eine Woche später musste ich feststellen: Sie hatte tatsächlich reingeschaut. « Das war der Frustlöser. Danach habe es keine zwei Wochen mehr gedauert, »dann hatte sie den Lebensgefährten meiner Ex-Frau an den Tisch bekommen«.

Simone Kern lächelt. »Was wir den Eltern anbieten, ist eine Offenheit, eine Klarheit, eine Transparenz «, sagt sie dann. »Ich bin niemand, der um den heißen Pudding rumredet.« In diesem Fall sei es um ein hoch zerstrittenes Elternpaar gegangen, »da musste Klarheit rein«. In Rückkopplung mit dem Team und der Fachaufsicht sei man in Familiengesprächen den gegenseitigen Vorwürfen auf den Grund gegangen. Ihre Maxime: »Ich habe sie ernst genommen, alle drei.« Allerdings: »Wenn die Eltern dabei nicht mitarbeiten, haben wir keine Chance«, ergänzt Dimitra Georgiou.

Doch die Anstrengung sollte sich lohnen. Nicht allein, weil Robin aufblühte, durch die verlängerten Wochenenden zu Hause zum einen. Sondern auch, weil er sich in der Wohngruppe mit sieben weiteren Mädchen und Jungen wohlfühlte, größere Freiheiten genoss, er in den Medienzeiten sein Smartphone nutzen oder am Computer spielen und dazu regelmäßig mit den Eltern telefonieren konnte, wie er erzählt. »Ich hatte ein großes Zimmer und durfte jedes Wochenende für zwei Nächte nach Hause«, beschreibt er sein größtes Glück. Der Höhepunkt aber war die Familienfreizeit im darauffolgenden Sommer – mit Mama und Papa. »Das war eine grandiose Idee aus der Familie heraus«, befindet Simone Kern im Rückblick.

Was wir den Eltern anbieten, ist eine Offenheit, eine Klarheit, eine Transparenz

Simone Kern, Familientherapeutin bei "Take 5"

Acht Tage blieben Zeit, unter großer Anstrengung, »auch unter Tränen und Wut«, der Frage nachzuspüren, wo Robins künftige Lebenswelt sein könnte, sagt die Familientherapeutin. Marcus Neumann hat damals einen langen Brief an sich selbst geschrieben, der nicht nur Teamleiter Oliver Nitschmann zu Tränen rührte, sondern offenbar auch seine Ex-Frau beeindruckte. »Am Samstag kamen wir an, am Mittwoch fiel die gemeinsame Entscheidung: Robin geht zum Papa«, berichtet Simone Kern. Selbst Robins Mutter habe erkannt, »dass sie viele Dinge, die nötig wären, nicht bedienen kann«. 

Eine aufregende Zeit

Die folgenden drei Monate waren eine aufregende Zeit für alle. Es wurde laut Dimitra Georgiou besprochen, wie die Annäherung aussehen könnte und wie der Alltag organisiert werden muss: »Wie geht das mit der Schule, mit Arztterminen, der Freizeitgestaltung?« Fragen, die er sich bis dahin nicht stellen musste. »Ich war ja seit Jahren kein Vollzeitpapa«, sagt Marcus Neumann. Doch er hat sich durchgebissen, erfolgreich, in den Herbstferien 2023 zog Robin bei seinem Vater ein. »Ich fühlte mich am Ziel, mehr für Robin als für mich«, bringt er es auf den Punkt. »Dass die ganzen Jahre, dass das plötzlich vorbei ist.«

Und es läuft insgesamt gut, wenngleich es »ein verdammt hartes Jahr war«, wie der 47-Jährige einräumt. Sein Sohn nickt zustimmend. »Das ist auch der Grund, warum ich Frau Kern in der Nachsorge haben möchte«, sagt Vater Neumann. Für die Therapeutin ist das verständlich: »Wir brauchen eine Entwicklung, zwei oder drei Jahre sind völlig normal«, meint sie. Dennoch: »Herr Neumann ist die stabile Säule in der Familie. Die Entscheidung, die auf der Familienfreizeit gefallen ist, war die richtige.« 

Robin genießt jetzt das Leben beim Vater, seine Mutter wohnt nur einige Hundert Meter entfernt. Seinen Halbbruder treffe er auch regelmäßig, erzählt er. »Das sind keine fünf Minuten.« Er strahlt. Auch Fachaufsicht Dimitra Georgiou erlebt einen vergnügten Jungen. »Und sein Vater ist für ihn da.« Dass dieser wieder Zutrauen fand, in andere und in sich selbst, lag seiner Ansicht nach am gesamten Team der Fünf-Tage-Gruppe. »Sie gaben mir das Gefühl, nichts falsch gemacht zu haben, ich wusste es zu diesem Zeitpunkt halt nicht besser«, sagt Marcus Neumann. Doch er hat dazugelernt. Wenn er nun regelmäßig zurückkehrt, habe er nicht das Gefühl, er komme zu Leuten, die »der verlängerte Arm des Jugendamts« sind. »Ich komme zur Familie, zu Freunden.« 

Ein großes Kompliment, über das sich Simone Kern sehr freut, das ist ihr anzumerken. Was denn das grundsätzliche Geheimnis hinter dem Erfolg des Konzepts der Fünf-Tage-Gruppen sei? »Ohne Eltern geht es nicht«, sagt sie dann mit Nachdruck. »Das ist auch eine Haltung.« 

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