Im richtigen Team, am richtigen Ort

|

Die eine ist seit gut drei Jahrzehnten dabei, die andere keine drei Jahre. Was Ulrike Winter-Spickernagel und Jessica Lorenzmeier eint, ist die Begeisterung für ihren Beruf: Sie begleiten Kinder mit Unterstützungsbedarf bei der Jugendhilfe Grünau. So verschieden Arbeitszeiten und Tätigkeitsprofil in Tages- und Intensiv-Wohngruppen auch sind, stets gilt es, jungen Menschen den Weg ins Leben zu ebnen. Supervision, Weiterbildungen und Teamfindungs- Angebote sollen die anspruchsvolle Arbeit erleichtern. Der Zusammenhalt kommt dann offenbar von alleine.

Müsste sich Ulrike Winter-Spickernagel noch einmal für einen Beruf entscheiden, die Wahl fiele ihr leicht: Es wäre derselbe. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet die 64-jährige Diplom-Pädagogin als Teamleiterin der Tagesgruppe für Kinder in der zur Jugendhilfe Grünau gehörenden Außenstelle Oerlinghausen – und könnte sich »nichts Besseres vorstellen«, wie sie sagt. Ob Jessica Lorenzmeier in ein paar Jahrzehnten ähnlich denkt? Die Chancen stehen nicht schlecht: Die 25-jährige Sozialarbeiterin gehört seit zweieinhalb Jahren zum Team der Therapieintensivgruppe »Delphine« am Stammsitz in Bad Salzuflen und hätte nach eigener Aussage nicht gedacht, dass sie der Bereich so begeistert. Nach einem Praktikum ist sie daher gerne wieder zurückgekommen.

In einer Zeit, in der es vielen sozialen Einrichtungen schwerfällt, Fachkräfte zu gewinnen, ist dies für die Jugendhilfe Grünau ein Glücksfall. Denn individualisierte Lebenskonzepte junger Menschen treffen laut Einrichtungsleiterin Martina Wagner auf Berufsbilder, die neben einem hohen inhaltlichen Anspruch zumeist auch viel Flexibilität erfordern, alleine der Arbeitszeiten wegen. Und doch ist sie überzeugt, dass ein solcher Glücks- kein Einzelfall bleiben muss. Denn es sind ganz unterschiedliche Dinge, die Ulrike Winter-Spickernagel und Jessica Lorenzmeier an ihrer Arbeit reizt. Es sind ja auch unterschiedliche Tätigkeitsfelder.

Ulrike Winter-Spickernagel etwa kümmert sich in einem Team von insgesamt vier Fachkräften plus Praktikanten um zwölf Kinder – und zwar ausschließlich tagsüber. Es sei eine teilstationäre Einrichtung, erklärt die Teamleiterin. »Der Dienst beginnt in der Regel um neun, ab halb elf kommen die Kinder dann nach und nach aus der Schule und sind bis gegen halb sechs bei uns.« Übernachtet wird allenfalls während Ferienfreizeiten. Dass die Arbeitszeiten somit familienfreundlich sind, war für die Mutter zweier inzwischen erwachsener Kinder ein schöner Nebeneffekt, aber nicht entscheidend.

Ulrike Winter-Spickernagel

ist seit mehr als drei Jahrzehnten Pädagogin in Grünau.

Sie, die Pädagogik in Bielefeld studiert und zunächst in Bethel in einer Werkstätte für Menschen mit psychischer Erkrankung gearbeitet hatte, hat sich 1991 bewusst für die Teamleitung der damals zu gründenden Tagesgruppe für Kinder im Grundschulalter beworben. Durch ihren Mann, der bereits in einer Gruppe der Jugendhilfe arbeitete, wusste sie recht genau, was sie erwartete: »Mich hat die Aufgabe von vornherein fasziniert «, sagt sie. »Ich arbeite mit Kindern, aber auch mit deren Familien, mit Schulen, Ärzten, Therapeuten, auch dem Jugendamt. Das ist ungeheuer vielfältig.«

Ein großes Ziel

Zudem hat sich Ulrike Winter-Spickernagel nebenberuflich zur Familientherapeutin ausbilden lassen. Denn als Tagesgruppe habe man ein großes Ziel: »Wir versuchen, die Kinder und auch ihre Familien so zu unterstützen, dass die Kinder weiter zu Hause leben können.« Keine leichte Aufgabe, haben nach ihrer Erfahrung doch rund 80 Prozent der Eltern psychische Probleme. »Es ist kein böser Wille. Sie wollen eigentlich das Beste für ihre Kinder, sind aber nicht immer in der Lage, das auch zu geben.« Immer dann kommen sie und ihr Team ins Spiel. Denn jedes Kind habe es verdient, unterstützt zu werden, findet sie.

Davon ist Jessica Lorenzmeier ebenfalls überzeugt: Sie hatte nach dem Abitur zunächst Erziehungswissenschaften studiert. »Aber da hat mir der Bezug zur Praxis gefehlt«, bekennt sie. Und so wechselte sie an die Fachhochschule, studierte Soziale Arbeit und hat während eines Praktikums in der Jugendhilfe Grünau ihr Berufsfeld für sich entdeckt. In einer Gruppe mit männlichen Jugendlichen sei es ihr damals zwar noch schwergefallen, sich als junge Frau abzugrenzen. Bei den »Delphinen« aber, einer gemischten Therapieintensivgruppe mit 6- bis 13-Jährigen, fühlt sie sich am richtigen Ort. Sicherlich, die Kinder seien zum Teil schon herausfordernd, »aber ich finde das total spannend und kann ihnen so viel mitgeben«.

Mehr zum Thema

Die Jugendhilfe Grünau ist eine heilpädagogisch-therapeutische Einrichtung der Graf Recke Pädagogik gGmbH. Sie richtet sich mit ihren Angeboten an Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Die stationären, teilstationären und ambulanten Settings sind spezialisiert auf Kinder und Jugendliche, die massive emotionale und körperliche Verwahrlosung, Misshandlung und sexueller Gewalt erlebt haben.

Zur Homepage

Günter Regenbrecht freut sich sehr, dass Jessica Lorenzmeier dies so für sich erkannt hat. Man dürfe das allerdings nicht verallgemeinern. »Das ist ganz individuell. Es gibt auch junge Bewerber, die sich gerne mit jungen Erwachsenen beschäftigen«, sagt er. Und er muss es wissen, Regenbrecht ist der Personalleiter in Grünau. Der Bedarf in der Jugendhilfe sei zum Glück querbeet, genau wie die Interessen der Bewerber. Gerade in den letzten Jahren habe es verstärkt Anfragen aus dem Kitabereich gegeben. »Viele erkennen in der Begleitung der Alltagsstruktur einen Gewinn, wirksamer pädagogisch tätig zu werden«, sagt er.

Das gilt auch für Jessica Lorenzmeier: Andere aus ihrem Studienumfeld hätten sich mehr für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung oder die Schulsozialarbeit interessiert, berichtet sie. Aber: »Man verbringt mit den Kindern hier eine intensive Zeit. Man geht ganz anders in die Tiefe«, begründet sie ihre Wahl. Und klar, auch sie habe sich vorher Gedanken um die Arbeitszeiten gemacht, abends und am Wochenende. Doch die 25-Jährige erkennt darin sogar einen Vorteil. Zum einen habe sie auch mal an einem Montag oder Dienstag frei, an diesen Tagen sei es »beim Shoppen nicht so voll«, sagt sie mit einem Lachen. Zum anderen unternehme sie mit den Kindern am Wochenende gerne Dinge, die sie privat ebenfalls machen würde. »Man grillt, geht ein Eis essen oder schwimmen.«

Das deckt sich mit den Erfahrungen von Martina Wagner. Gerade das Einbringen der eigenen Vorlieben sei ein großes Plus in der sozialen Arbeit, ob das nun Kochen sei, Musik oder Sport. Und auch die freien Tage nach Wochenend- oder Feiertagsdiensten sehen demnach auch andere positiv: »Viele Kolleginnen und Kollegen schätzen diese Flexibilität sehr«, sagt die Einrichtungsleiterin. Zumal bei der Dienstplanung in der Regel auch Wünsche abgegeben werden können. Sicherlich: »Wunsch ist Wunsch, nicht Gesetz«, macht Martina Wagner klar. Aber es gebe immer auch die Möglichkeit, Schichten zu tauschen. Und der Teamgeist in Grünau sei groß, freut sie sich: »Da wird einem beigesprungen.«

Delphine und Spatzen helfen sich

Das kann Jessica Lorenzmeier bestätigen. Auch wenn sie aus einem stabilen Team komme und alle Stellen besetzt seien, gerade in Urlaubszeiten könne es durchaus mal eng werden, »insbesondere wenn dann Kollegen krank werden«. Die »Delphine« aber teilten sich die Teamleitung mit der Gruppe »Spatzen«, sagt sie. »Wir unterstützen uns gegenseitig.« Erst neulich habe ein Kollege der »Spatzen« zwei ihrer Kinder zum Schwimmen mitgenommen, um die »Delphine« etwas zu entlasten. »Da hat sich ein gutes Netzwerk gebildet.«

Dieses Miteinander kommt nicht von ungefähr: Einrichtungsleiterin Wagner hält nicht nur eine gute Einarbeitung neuer Kolleginnen und Kollegen für wichtig. »IdealerIdealerweise werden diese durch erfahrene Kräfte begleitet«, sagt sie. Zudem finden in Grünau regelmäßig Teamgespräche statt, werden Klausuren und Fortbildungen angeboten. Hinzu komme eine gute Supervision. Das habe mit der Tradition der Einrichtung zu tun, betont Personalchef Günter Regenbrecht. »Fort- und Weiterbildung und fachliche Reflexion sind hier lange etabliert, und das spricht sich rum«, so seine Erfahrung aus Einstellungsgesprächen. Es werde in der Regel sehr geschätzt, dass sie als Einrichtung selbst ein großes Interesse an Weiterqualifikation haben. Ein Pfund, mit dem er gerne wuchert.

Neue Kollegen werden bei der Einarbeitung von erfahrenen Kräften begleitet.

Martina Wagner

Welchen Stellenwert das Thema in Grünau hat, war Jessica Lorenzmeier zunächst gar nicht so bewusst. »Ich bin ja zu Hoch- Corona-Zeiten eingestiegen«, erklärt sie. Inzwischen aber werde in der Tat sehr viel angeboten, von Supervision bis hin zu Teamfindungs-Maßnahmen. Und das zeigt Wirkung: »Unser Team hat sich extrem verändert«, berichtet sie. »Mittlerweile gibt es die Einstellung: Wir sitzen alle in einem Boot. Da kommt man auch mal aus dem Frei, um andere zu entlasten. Weil man die Person einfach gerne hat.«

Ulrike Winter-Spickernagel kennt das: Die Teamleiterin der Tagesgruppe in Oerlinghausen arbeitet seit fast drei Jahrzehnten mit derselben Kollegin zusammen, ergänzt seit sechs Jahren durch einen jungen Erzieher sowie einen weiteren Kollegen aus Bad Salzuflen. »Wir sind täglich das gleiche Team. Wir kennen und vertrauen uns«, freut sie sich. Und es mache einfach große Freude, gemeinsam zu sehen, wie sich die Kinder entwickeln und welche Chancen sich diesen später doch bieten. »Ich kenne viele Lebensläufe. Manche unserer Kinder haben inzwischen selber welche, einer hat eine Firma.«

»Mich begeistert das immer noch«

Solche Erfahrungen machen die Pädagogin glücklich und ein wenig stolz. Dazu sei es persönlich »sehr bereichernd«, sich mit den Kindern und ihrer Geschichte zu befassen. »Mich begeistert das immer noch«, sagt die 64-Jährige. Und so wird Ulrike Winter-Spickernagel im kommenden Jahr zwar offiziell in Rente gehen, sie hat Martina Wagner allerdings bereits angeboten, ihre familientherapeutische Arbeit über den Ruhestand hinweg fortzusetzen. Ein größeres Kompliment kann es für eine Einrichtung wohl kaum geben.

recke:newsletter

Was wir bewegen. Was uns bewegt: News und Storys aus der Graf Recke Stiftung.

Jetzt abonnieren