Wechsel unter erschwerten Bedingungen

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Im Oktober wird Sebastian Kühl die Leitung der Ergo- und Arbeitstherapie in Düsseldorf-Grafenberg an Diana Lechleiter abgeben. Seit März bereits fungieren sie als Doppelspitze, es lief alles wunderbar. Doch dann kam das Hochwasser, seitdem ist an ein reguläres Arbeiten für Menschen mit psychischen Erkrankungen kaum zu denken. Dass der 63-Jährige dennoch bald gelassen in den Ruhestand wechselt, hat viel mit seiner 34-jährigen Nachfolgerin zu tun. Die beiden denken ähnlich und teilen sich derzeit nicht nur ein Notbüro, sondern auch ihre Vorliebe für schrägen Humor.

Diese Staffelübergabe hatten sich Diana Lechleiter und Dr. Sebastian Kühl wahrlich anders vorgestellt. In einem gleitenden Übergang wollte der bisherige Leiter der Ergo- und Arbeitstherapie der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik in Düsseldorf-Grafenberg sein Tätigkeitfeld an seine designierte Nachfolgerin übergeben. Man wollte sich fachlich austauschen, über das Erreichte und künftige Ziele verständigen. Stattdessen beherrscht seit Mitte Juli beinahe ein einziges Thema ihre Arbeit: das Hochwasser auf dem Areal und seine Folgen. Und doch empfinden beide die Situation sogar als Chance.

Er habe sich „keine bessere Nachfolgerin vorstellen können“, lobt Sebastian Kühl die Kollegin, die bereits im März 2021 ihre Stelle antrat. Diese wiederum nennt es „eine luxuriöse Situation“, über mehrere Monate eine Doppelspitze zu bilden. „Es war ein total schönes Ankommen. Ich hatte von Tag eins an Unterstützung“, sagt Diana Lechleiter. Und daher sind beide nun froh, diese außerordentlich herausfordernde Zeit mit dem jeweils anderen meistern zu können – seit Wochen im Ausweichquartier, das gemeinsame Büro war überflutet worden und muss erst noch saniert werden. Das gleiche Schicksal traf sämtliche Arbeits- und Therapiebereiche, für die Diana Lechleiter ab Oktober allein verantwortlich sein wird. „Alles stand unter Wasser, auch unsere Praxis für Ergotherapie. 80 Prozent des Materials ist kaputt, der Rest lagert in Containern“, erzählt die 34-Jährige. Und so ist an ein reguläres Arbeiten wohl bis weit in den Herbst hinein nicht zu denken. „Aber all unsere Klienten und Mitarbeitenden haben das toll gemeistert. Die notwendige Flexibilität hatten sie ja schon durch Corona gezeigt“, sagt sie. „Wir kriegen das hin.“

Diana Lechleiter

folgt auf Sebastian Kühl.

Sebastian Kühl nötigt das Respekt ab: „Mehr Krisenerprobung geht nicht“, sagt er, der im Urlaub weilte, während die Katastrophe über Grafenberg hereinbrach. Die gute Nachricht aber sei: „Es kann nur besser werden.“

Menschen mit einer psychischen Erkrankung durch gezielte Maßnahmen wieder die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen, das ist das Ziel der Graf Recke Sozialpsychiatrie & Heilpädagogik: Rund 30 Mitarbeitende, Honorarkräfte und Ehrenamtliche sind dafür täglich im Einsatz. 130 Klienten zählen Ergo- und Arbeitstherapie in regulären Zeiten, 70 kommen in der Praxis für Ergotherapie noch dazu.

Es war eines der Felder, die Sebastian Kühl stärkte, als er vor rund sechs Jahren die Leitung des Bereichs übernahm, als man etwa zusätzlich Patienten mit neurologischen Krankheiten aufnahm. Zudem wurden themenzentrierte Gruppenangebote ausgeweitet. Ein Jahr lang sei seine Stelle zuvor unbesetzt gewesen, erzählt er. Das Team über regelmäßige Gespräche zusammenzuführen, nennt er daher als einen Schwerpunkt seiner Anfänge bei der Stiftung. Und das Angebot ist breit gefächert: Von den Arbeitstherapieangeboten in der Küche, der Wäscherei, der Schreinerei oder im Garten bis hin zu Mathildes Spielekiste, einem inklusiven Laden für Markenspielzeug und selbstgefertigte Spielwaren.

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„Die Leute verstehen ihr Handwerk, ob in der Küche, den Werkstätten oder im Laden“, macht Sebastian Kühl deutlich. Das gelte genauso für die Industriemontage, wo Produkte für wichtige Auftraggeber verpackt werden. „Da muss die Qualität stimmen.“ Dafür sei das Fachliche genauso wichtig wie der Umgang mit den Klienten. Denn hinter all dem stehe der Anspruch, „den Teilnehmenden zu vermitteln, dass sie für andere Menschen wertvolle Produkte herstellen oder Dienstleistungen erbringen“, sagt er.

„Wir wollen Menschen mit psychischer Erkrankung sinnhafte Betätigung ermöglichen; Lebensinhalte, ergänzend zu unseren Wohnangeboten“, erläutert Sebastian Kühl. „Eine Lebenswelt, in der die Klientinnen und Klienten sich selbstwirksam und bedeutungsvoll erleben“, ergänzt Diana Lechleiter. Ganz gleich, ob diese an einer Depression, an einer Psychose oder Persönlichkeitsstörung leiden. Daher sei das Angebot in der Ergotherapie auch so vielfältig, wo sie sich „in kreativen Themen ausprobieren können“, wie sie es nennt.

Diana Lechleiter, ausgebildete Ergotherapeutin mit einem Bachelor in angewandten Therapiewissenschaften, möchte dieses Angebot in Zukunft noch ausweiten, das Bundesteilhabegesetz (BTHG) liefere dazu jetzt die Rahmenbedingungen, sagt sie. „Es geht um eine sehr viel individuellere Betrachtung der Bedürfnisse und größtmögliche Selbstständigkeit.“ Doch niemand könne das allein. Dafür brauche sie ihr Team und auch den Austausch mit den Wohnbereichen. Zudem: „Es ist meine erste Stelle mit Leitungsfunktion“, meint sie, die zuletzt als Ergotherapeutin in einer psychiatrischen Klinik in Langenfeld gearbeitet hat. „Ich muss mich erst noch in meine Rolle finden.“

Sebastian Kühl ist überzeugt, dass ihr das gelingen wird. Nicht allein, wegen ihres Engagements und ihres Fachwissens, auch vom Typ her. „Wir ticken gleich, wir denken fachlich ähnlich und teilen auch unsere Vorliebe für schrägen Humor“, sagt er mit einem Lachen. Es sei das erste Mal seit langem in seinem Berufsleben, dass er nicht alleine in einem Büro sitze. „Ich hatte aber keinen Moment Angst, dass das schiefgehen könnte.“ Da er davor krankheitsbedingt fast eineinhalb Jahre lang ausgefallen war, gab es zudem einiges aufzuarbeiten, wie er sagt. Das habe man gemeinsam auf beste Weise geschafft.

Ich hatte keinen Moment Angst, dass das schiefgehen könnte.

Dr. Sebastian Kühl

Und so wird Sebastian Kühl, der einst Einrichtungsleiter bei der Kaiserswerther Diakonie war und davor jahrelang den Wohnverbund eines sozialpsychiatrischen Trägers in Duisburg geleitet hatte, im Herbst gelassen in seinen Ruhestand gehen – und doch „mit gemischten Gefühlen“, wie er gesteht. Er werde sein Portugiesisch auffrischen und endlich die dicke Biografie von Marcel Proust zu Ende lesen, worauf er sich freue. „Es ist aber auch ein Abschied“, betont der Sozialpädagoge und promovierte Erziehungswissenschaftler, wenngleich er noch bis März 2022 mit einigen Stunden wöchentlich unterstützend im Einsatz sein werde.

Während Diana Lechleiter sich also darauf freut, nicht mehr „Containertetris zu spielen“, wie sie das Weg- und Umräumen der aus dem Hochwasser geretteten Habseligkeiten ironisch nennt, sondern gemeinsam mit dem Team und den Klienten endlich wieder inhaltlich zu arbeiten, wird ihrem Vorgänger all das fehlen. Er habe die Tür fast immer offen gehabt, das spontane Gespräch werde er vermissen, räumt Sebastian Kühl ein. Und die Klienten, die sowieso. Noch nie, sagt er, „hatte ich einen Arbeitsplatz, an dem ich so oft Klienten habe lachen hören“.

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