Zwischen Freiheit und Struktur

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Erziehungswissenschaftler Holger Wendelin hat eineinhalb Jahre lang exemplarisch die Kleinstgruppe Marxloh der Graf Recke Stiftung wissenschaftlich begleitet. Der akzeptierende Ansatz in der hochintensiven Betreuung von Jugendlichen, die bislang durch jedes Raster fielen, bezeichnet er als „Ringen zwischen Freiheit und Struktur“. Dies sei anstrengend, nicht ohne Risiko, doch die Erfolge sind offensichtlich. Fachbereichsleiterin Sabine Brosch und Teamleiterin Steffi Lambertz freuen sich über den kritischen Blick, die wertschätzende Rückmeldung – und sehen das Konzept bestätigt.

Es ist ein außergewöhnliches Konzept mit besonders herausforderndem Klientel: die individualpädagogischen Kleinstgruppen der Graf Recke Stiftung mit jeweils maximal drei Jugendlichen in Duisburg-Bissingheim, Leichlingen, Solingen und Duisburg-Marxloh. Diese Wohnform ist nicht selten die letzte Chance für die jungen Menschen, viele von ihnen schwer traumatisiert, in einer offenen Gruppe zu leben, in der sie akzeptiert werden. Das Konzept ist anspruchsvoll, personalintensiv, auch nicht ohne Risiko, das ist den Verantwortlichen bewusst. Deshalb sei „ein kritischer Blick umso wertvoller“, sagt Fachbereichsleiterin Sabine Brosch. Und genau diesen hat Holger Wendelin die letzten eineinhalb Jahre exemplarisch für Marxloh gewagt. Seine Erkenntnisse aus dieser Zeit sind so komplex und vielschichtig wie die Betreuungsform selbst. Dass es der richtige Weg ist, daran aber hegt er keinen Zweifel.

Holger Wendelin ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, zudem Mitglied im fachlichen Beratungsgremium, das die hochintensiven Betreuungen von Anbeginn begleitet. Im Gremium sind neben ihm unter anderem Vertreter des Landesjugendamts, der LVR-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, des Diakonischen Werks und der Stadt Düsseldorf vertreten. Initiiert worden sei es vom früheren Geschäftsbereichsleiter Michael Mertens, sagt Sabine Brosch. Aus gutem Grund: Die externen Partner seien beauftragt „uns auf die Finger zu schauen, weil das hochintensive Arbeiten durch die Zielgruppe untrennbar mit Risiken verbunden ist und die Stiftung hier ein besonderes Augenmerk auf diese hohe Verantwortung werfen wollte“. Eine wissenschaftliche Begleitung des Angebots war ein folgerichtiger Schritt. Die Wahl fiel dabei auf die Kleinstgruppe Marxloh, „weil sie die jüngste und damit auch die unruhigste war, so dass man am besten die Effekte beobachten konnte“, so die Fachbereichsleiterin.

Ohne starren Regeln

Holger Wendelin, der in anderer Rolle auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Graf Recke Stiftung ist, nahm den Auftrag zur Evaluation gerne an, forscht und lehrt er doch seit Jahren im Bereich von „schwer erreichbaren Jugendlichen“, wie er sie bezeichnet. „Andere nennen sie ‚Systemsprenger‘, ein Begriff, den ich aus fachlichen Gründen ablehne.“ Im Umgang mit diesen sei in den vergangenen Jahren eher wieder einengend gearbeitet worden, so seine Beobachtung. Das Interessante an dem hochintensiven Konzept der Graf Recke Stiftung sei hingegen die Kombination aus einer Einzelbetreuung „und dem Versuch, das Ganze in einen Gruppenkontext zu bringen, mit einem sehr stark akzeptierenden Zugang“, sagt der Wissenschaftler. „Statt starrer Regeln lässt man die Jugendlichen erst mal so sein, wie sie sind, um sie überhaupt zu erreichen.“ Das sei in dieser Form ungewöhnlich, nur in Bremen gebe es ein ähnliches Konzept.

Für Steffi Lambertz ist das dennoch der beste Weg: Sie leitet die Kleinstgruppe seit ihrem Start 2021 – und es sei klar gewesen, dass man etwas anders machen müsse. „Was unsere Jugendlichen kennen: Dass sie mit ihrem Verhalten und ihrer Problematik stets zu viel, zu schlimm, zu wenig regelakzeptierend sind und das dann immer wieder zu Abbrüchen führt“, sagt sie. „Wir versuchen den Druck rauszunehmen, damit die Jugendlichen wissen, das ist jetzt ihr Zuhause und wir versuchen sie zu unterstützen.“ Man kenne bei ihrer Aufnahme ja bereits deren Verhaltensweisen, wozu Provokation und Aggressivität gehören können, weshalb sie bisher durch jedes Raster fielen. „Da wäre es wenig zielführend, bei der ersten Regelverletzung ebenfalls mit Rauswurf zu drohen“, so Lambertz. Was man stattdessen anbiete, sei eine grundsätzliche Wertschätzung, man „halte die Jugendlichen“.

Wir versuchen den Druck rauszunehmen, damit die Jugendlichen wissen, das ist jetzt ihr Zuhause und wir versuchen sie zu unterstützen.

Steffi Lambertz

Es werde ein Rahmen gesetzt, „den die Jugendlichen mit breiten Freiheiten selbst abstecken und somit gut annehmen können“, so drückt es Erziehungswissenschaftler Wendelin aus. Er hat in den eineinhalb Jahren der Begleitung nicht allein die Hilfeplandaten ausgewertet und rund 30 Interviews geführt, mit Jugendlichen und Betreuern genauso wie mit Kinder- und Jugendpsychologen und Jugendämtern. Er wählte zudem das explorative Mittel der Teilnehmenden Beobachtung, lebte tageweise mit in der Marxloher Gruppe, um sich ein unverstelltes Bild vom dortigen Alltag machen zu können.

„Das Team lebt das“

„Was sehr gut gelingt, ist dieses Aushalten, bedingungslos“, so seine Erkenntnis. Das gelte auch dann, wenn der Jugendliche beispielsweise gerade das Bedürfnis habe, bis nachts um vier Party zu machen und deshalb nicht in die Schule könne. Gleichzeitig wäre es aus Sicht des Erziehungswissenschaftlers notwendig und wünschenswert, dem Jugendlichen eine Struktur anzubieten, die ihm Orientierung und Sicherheit gibt. „Und das widerspricht sich ja ein bisschen. Gerade in einer Gruppe von Jugendlichen, die in unterschiedlichen Phasen sind.“ Es sei schwierig, da einen Mittelweg zu finden, sagt er, es sei „ein ständiges Austarieren“, weil man ja bewusst eine Gruppe sein wolle.

Was sehr gut gelingt, ist dieses Aushalten, bedingungslos.

Professor Holger Wendelin

Das sei eine Herausforderung, es habe durchaus Krisen gegeben in der Zeit, die mit viel Aufwand dennoch gelöst werden konnten. Wendelins Erklärung: „Das Team lebt das.“ Allerdings sei es ein Lernprozess, herauszufinden, welche Jugendlichen mit dieser Art von Freiheit überhaupt umgehen können. Das kann Sabine Brosch bestätigen: Es sei bereits im Aufnahmeverfahren ein ständiges Abwägen. „Diese Jugendliche haben ein Risikoverhalten, meist sich selbst gegenüber, mit denen man im Alltag umgehen muss.“ Das sei auch für das Team nicht einfach auszuhalten, man habe daher von Beginn an Ausschlusskriterien im Konzept für die aktuell bestehenden Kleingruppen formuliert. Das betreffe etwa Menschen mit einer geistigen Behinderung in Kombination mit einer psychischen Erkrankung. Jugendliche also, „die die Folgen ihres Handelns nicht überblicken können“, sagt die Fachbereichsleiterin.

Was wäre die Alternative?

Es sei „ein schwieriges Feld“, bekennt auch Teamleiterin Steffi Lambertz. Für sie stehe der Schutzgedanke immer im Vordergrund. Der zweite Gedanke aber betrifft sogleich die mögliche Alternative. „Diese wäre in manchen Fällen die geschlossene Jugendpsychiatrie“, wird Holger Wendelin deutlich. Das ist für Steffi Lambertz keine Option. Es ist ein teures Projekt, keine Frage. „Aber es besteht aus dem Bedarf heraus“, macht sie klar, das hätten die Jugendämter nach anfänglichen Bedenken ebenfalls erkannt. Elf junge Menschen werden aktuell in den Gruppen betreut, die Warteliste ist lang.

„Das ist eine hochanstrengende Arbeit“, das steht für Holger Wendelin fest, weshalb sich auch die Teams zunächst finden mussten. Es sei ein tägliches Ringen im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Struktur, sagt er. Das werde auch nicht aufhören und sei immer eine Teamaufgabe, für die er von außen keine Ratschläge erteilen wolle. Allenfalls erkennt der Wissenschaftler das Risiko des „Laissez faire“, wenn durch die akzeptierende Haltung Konflikte eher nach außen getragen werden. Gerade Marxloh, als sozialer Brennpunkt mit all seinen Verlockungen und Reizen, sieht er als Standort „ambivalent“. Doch erkennt Wendelin zugleich „überzeugende Argumente für das Weiterführen der Gruppe“, wie er sagt. Die für ihre Verhältnisse lange Verweildauer der Jugendlichen und deren überwiegend positive Entwicklung sind für ihn die überzeugendsten.

„Ich freue mich vor allem über die konstruktive und sehr wertschätzende Rückmeldung durch Professor Wendelin für das Team und die Bestätigung unserer Form der Begleitung im Rahmen des Krisenmanagements von der Leitungsseite“, resümiert Sabine Brosch die Evaluation. Was für Holger Wendelin jedoch ein wichtiger Punkt ist: Die Perspektiven der jungen Menschen nach einer solchen Maßnahme verstärkt in den Blick zu nehmen, wie er in einer ersten Präsentation seiner Ergebnisse im Beratungsgremium hervorhob. „Aber da habe ich mit meinem Hinweis wohl offene Türen eingerannt.“

Lösungen für die Zeit danach

In der Tat ist man im Fachbereich seit einiger Zeit dabei, Wohnformen in der Nachbarschaft aufzubauen, in denen die Klienten nach ihrem Auszug weiter betreut werden können. Man stocke die Teams entsprechend auf, sagt Sabine Brosch. Das sei in Marxloh und Solingen bereits der Fall, auch in Bissingheim habe man bereits eine Wohnung gefunden. „Wobei wir da eine besondere Herausforderung bekommen. Wir nehmen in der Bissingheimer Kleinstgruppe gerade eine Zehnjährige auf“, berichtet Brosch. Sie sei gespannt, „welche Zwischenschritte uns für sie einfallen werden. Der Weg zur Volljährigkeit ist lang.“

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